Neujahrsansprache von Staatspräsident Jacques Chirac an Vertreter der Presse

Neujahrsansprache von Staatspräsident Jacques Chirac an Vertreter der Presse


(Paris, 4. Januar 2006)

(···) Wir erleben gerade eine außergewöhnliche Zeit. Frankreich ist voller Fragen und oft starker Spannungen. Das wurde in der Zeit vor der Volksabstimmung und bei der Krise in den Vorstädten deutlich.

Im Hintergrund ist das Thema Globalisierung präsent: Wie können wir uns selbst treu bleiben in einer Welt, die sich so schnell verändert?

Es stellen sich auch Probleme, Identitätsfragen.

Aber gleichzeitig erlebt Frankreich wichtige Erfolge. Die seit 2002 gestarteten Modernisierungsprojekte beginnen Früchte zu tragen. Das kommt durch Wachstum, sinkende Arbeitslosigkeit, aber auch durch unsere großen industriellen Erfolge zum Ausdruck. Natürlich gibt es noch Skeptiker, aber die Wahrheit ist, dass wir uns im Lauf dieser Jahre die Mittel für unsere Zielsetzungen gegeben haben.

Um sich dessen bewusst zu werden, müssen wir aufhören, nur das Negative zu sehen, uns ständig selbst zu beschuldigen und nicht mehr zusammenzustehen. Frankreich ist ein großartiges Land und wir haben allen Grund, stolz darauf zu sein. Die Welt verändert sich um uns herum und wir haben so viele Herausforderungen anzunehmen. Dafür brauchen wir zunächst Selbstvertrauen.

Deswegen erfordert das Jahr 2006, dass wir schneller handeln.

Das ist für unser Land unerlässlich. So wird Frankreich zuversichtlich und verantwortungsvoll an die Herausforderungen 2007 herangehen können. So werden wir vermeiden, dass die Debatte des nächsten Präsidentschaftswahlkampfes von Extremismus oder Populimus dominiert wird.

Schneller Handeln – zu allererst für die Beschäftigung. Das ist unsere größte Herausforderung. Seit acht Monaten sinkt die Arbeitslosigkeit. Das ist das Ergebnis der Bemühungen der Französinnen und Franzosen, das Ergebnis der seit 2002 geführten Politik und des entschlossenen Handelns der Regierung, deren Arbeit ich besonders würdigen möchte. Die 35-Stunden-Woche musste aufgelockert werden. Die Logik der Arbeitsaufteilung musste durchbrochen werden, um möglichst viele Menschen, insbesondere die Jugendlichen, wieder in ein Arbeitsverhältnis zu bringen. Der Plan des sozialen Zusammenhalts wird nach und nach umgesetzt.

Die Gründung von Unternehmen und die Schaffung von Arbeitsplätzen in kleinen und mittleren Unternehmen mussten angeregt werden. Der so genannte Neueinstellungsvertrag ist unbestreitbar ein Erfolg.

Die Industrie-, Innovations- und Forschungspolitik musste wieder angekurbelt werden. Wir haben dies 2005 mit den Kompetenzzentren, mit der Agentur für industrielle Innovation und mit dem Forschungsgesetz getan.

2006 (...) wird die Regierung eine neue Etappe bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beschreiten.

Das Finanzierungssystem unserer sozialen Sicherung wirkt sich negativ auf die Beschäftigung aus, weil es zu sehr auf den Gehältern beruht. Je mehr man einstellt, desto mehr Abgaben zahlt man.

Je mehr man hingegen entlässt, desto mehr delokalisiert man, desto mehr Güter und Dienstleistungen führt man ein, desto weniger zahlt man dafür und desto mehr soziale Ausgaben bürdet man der Nation auf.

In den 1990er Jahren hat unser Land mit der Einrichtung der allgemeinen Sozialsteuer CSG, ein unumstrittenes Projekt, eine wesentliche Etappe der Reform der Finanzierung des sozialen Schutzes beschritten. Es wurden dynamische und auf den Einkommen aller gründende Mittel benötigt, um allgemeine Leistungen zu finanzieren.

Nun muss eine Bemessungsgrundlage der Arbeitgeberbeiträge eingeführt werden, die nicht nur die Gehälter sondern die gesamte Wertschöpfung berücksichtigt.

Es ist eine wichtige Reform für die Aufrechterhaltung und die Weiterentwicklung der Beschäftigung in unserem Land. Ein hohes Niveau an sozialer Sicherung und eine für die Globalisierung offene Wirtschaft müssen miteinander vereinbart werden.

Diese Reform wird in enger Absprache mit den Sozialpartnern ausgearbeitet werden. Sie wird progressiv erfolgen, um die Lage aller Unternehmen zu berücksichtigen, die verschiedenartig sind.

Wir müssen auch auf die Entwicklungen in der Arbeitswelt eingehen. Jeder Arbeitnehmer muss permanent gut gewappnet sein, um einen Arbeitsplatz zu erlangen oder wiederzubekommen. Wir müssen heute, zusammen mit den Sozialpartnern, eine echte Absicherung der beruflichen Laufbahn einrichten, wobei das lebenslange Lernen im Mittelpunkt stehen muss. Sie ist das Gegenstück zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die wir zu großem Nutzen durchgeführt haben.

Der Einsatz für die Beschäftigung erfolgt auch über die Industriepolitik. Wir werden massive Mittel für zwei Prioritäten aufwenden:

Die Post-Erdöl-Ära ist eine der größten Herausforderungen des Jahrhunderts. Wir haben enorme Vorzüge. Um der Klimaveränderung zu begegnen, weniger Energie zu verbrauchen und die Energie der Zukunft zu entwickeln, brauchen wir neue Technologien.

Die andere Priorität ist die Digitalisierung. Sie verändert die Kommunikations- und die Bildindustrie, das Wissen und auch den weltweiten Handel von Grund auf. Wir haben unsere Verspätung bei der Ausstattung eingeholt. Nun müssen wir uns einen Vorsprung erarbeiten. Wir wollen unter den Ersten sein beim Mobile TV und der Verbreitung des digital-terrestrischen Fernsehens. Wir wollen unseren Telekommunikationsindustrien ermöglichen, Programme zur Ausstattung mit dem Hochgeschwindigkeitsnetz VDSL zu starten und wir wollen mit unseren europäischen Partnern die erste echte Multimedia-Suchmaschine (Quaéro) starten, um eine internationale Antwort auf Google und Yahoo zu geben.

Soviel zur Beschleunigung unseres Handelns und zu den Ergebnissen. Vieles wird aber auch über unsere Fähigkeit laufen, uns in den Rahmen eines gemeinsamen motivierenden Projektes einzufügen. Beenden wir die aussichtslose Debatte über das „französische Modell". Natürlich muss reformiert werden, was schlecht funktioniert oder nicht mehr angebracht ist. Aber man verändert nicht, was man ist. Unser Vorhaben muss, wie ich bereits gesagt habe, nicht neu erfunden, sondern zum Leben erweckt werden. Es ist die Republik in ihren Prinzipien und in ihrem Handeln.

Die erste Forderung ist, dafür zu sorgen, dass das Gesetz und die Regeln eingehalten werden. Seit 2002 haben wir gezeigt, dass es bei der Zunahme der Gewalt keine Schicksalhaftigkeit gibt. Aber es bleibt noch vieles zu tun: Die Regierung wird intensiver gegen Verbrechen vorgehen.

(···).Die Regierung wird auch ihre Bemühungen um die Einhaltung unserer Gesetze über illegale Einwanderung verstärken müssen. Ich werde darauf achten.

Damit jedoch das Gesetz seine ganze Kraft entfaltet, müssen wir unsere Justiz reformieren. Wir müssen die Rechte der Verteidigung verstärken. Wir müssen neu über die Verantwortung der Richter und der gesamten Rechtsprechung nachdenken. Wir müssen den Obersten Rat der Richter reformieren. Ich werde diese Reform in den nächsten Wochen vorstellen.

Die zweite Forderung ist die nach der Leistungsförderung, nach Chancengleichheit.

Für die Bildung sehe ich zwei Prioritäten: Zunächst einmal muss die berufliche Bildung in der Sekundarstufe und im Hochschulbereich ausgebaut werden, damit sie eine vollwertige Erfolgs- und Exzellenzausbildung wird. Und wir müssen die Universitäten und die Elitehochschulen stärker für junge Leute aus einfachen Verhältnissen zugänglich machen. Diese Einrichtungen müssen schon in der Sekundarstufe, zum Beispiel durch die allgemeine Einführung von Tutorien, aktiv an der Orientierung und Vorbereitung der jungen Leute mitwirken, die dies brauchen. Dies wird formal in ihrer Aufgabenstellung festgeschrieben. Die Auswahlverfahren sollen überarbeitet werden, damit die Fähigkeiten ebenso wie der kulturelle Hintergrund besser berücksichtigt werden. Die besten Abiturienten eines jeden Gymnasiums in Frankreich müssen ein garantiertes Zugangsrecht zu den Vorbereitungsklassen der Elitehochschulen bekommen, was heute nicht der Fall ist. Wir werden schon in diesem Jahr mit den besten Abiturnoten damit beginnen. Die Vorbereitungsklassen sollen ihren Anteil an Stipendiaten auf ein Drittel erhöhen, wie es bei den Universitäten bereits gemacht wird.

Wir werden im Sinne dieser Logik der Öffnung der Gesellschaft auch im öffentlichen Dienst verfahren, wo die Aufnahmebereitschaft für alle Begabungen und für die Vielfalt größer werden muss. (...)

Wenn wir im Sinne der Chancengleichheit handeln, dann handeln wir auch im Sinne der Problemviertel. Der Schlüssel liegt in einer schnellen Umsetzung all dessen, was bereits angestoßen wurde und was wichtig ist: die steuerbegünstigten Gebiete, die städtebaulichen Maßnahmen, der Plan zum sozialen Zusammenhalt, die Agentur für den sozialen Zusammenhalt. Hier geht es um den Einsatz aller Beteiligten. Ich werde bald Gelegenheit haben, das ausführlicher zu erklären.

Es ist auch von wesentlicher Bedeutung, dass wir unser politisches Leben neu gestalten.

Ich wünsche mir, dass wir einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung von Mann und Frau oder Frau und Mann gehen.

Ich wünsche mir, dass die Gleichstellung in den kommunalen Exekutivorganen von Gemeinden mit mehr als 3.500 Einwohnern, in den regionalen Exekutivorganen und bei der Benennung der Vertreter in den interkommunalen Strukturen zur Pflicht wird. Ich wünsche mir auch, dass die finanziellen Sanktionen gegenüber politischen Parteien, die der gesetzlichen Forderung nach Gleichstellung nicht nachkommen, erhöht werden, damit sie wirklich abschreckend wirken.

Nicht zuletzt müssen sich die politischen Parteien verpflichten, alles zu tun, damit Frauen und Männer aus Einwanderungskreisen unter den Kandidaten zu lokalen oder zu nationalen Wahlen den ihnen gebührenden Platz erhalten. Die Mandatsträger müssen auf lokaler wie auf nationaler Ebene die Vielfalt Frankreichs widerspiegeln, was bisher nicht der Fall ist. Dies ist eine demokratische, eine staatsbürgerliche Forderung. Das kann nicht warten.

Ebenso unnachgiebig werde ich bei der Einhaltung der Werte der Republik sein: im Kampf gegen den Rassismus und den Antisemitismus; im Kampf gegen die Diskriminierung. Dafür habe ich, wie Sie wissen, immer gekämpft. Das, was die Größe Frankreichs ausmacht, ist Toleranz und die Achtung des Anderen.

Wir können stolz auf unsere Geschichte sein, die so viele Erfolge, so viel Größe und so viele Ideen vorzuweisen hat. Aber auch, weil man mit seiner Geschichte im Reinen ist, kann man ihre dunklen Seiten anerkennen. Das habe ich 1995 getan, um mit „dieser Vergangenheit, die nie endet", mit der Schande von Vichy, abzuschließen.

Die Frage der Sklaverei ist eine Wunde für viele unserer Mitbürger, vor allem in Übersee. Frankreich hat ein Beispiel gegeben, indem es als erstes und bisher einziges Land der Welt die Sklaverei als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt hat. Ich habe beschlossen, in Frankreich einen Erinnerungstag einzuführen. Ich werde das am 30. Januar erklären, wenn ich den Ausschuss unter Vorsitz von Maryse Condé empfange.

Ich möchte auch die Frage ansprechen, die Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Februar 2005 aufwirft. Ich habe darüber mit Jean-Louis Debré gesprochen. Der jetzt vorliegende Text entzweit die Franzosen. Er muss überarbeitet werden. Nach Rücksprache mit den wichtigsten Vereinigungen wird der Präsident der Nationalversammlung einen entsprechenden Gesetzentwurf einbringen, damit dieser Text neu verfasst wird und damit wir zu einer Fassung gelangen, auf die sich alle berufen können.

Im Übrigen wünsche ich mir, dass dieser Schritt im Rahmen einer allgemeinen Überlegung erfolgt, denn nicht Gesetze schreiben Geschichte.

In diesem Jahr wird Frankreich in der Welt besonders aktiv einsetzen. Europa ist immer vorangekommen, wenn es seine Krisen und Schwierigkeiten überwunden hat. Wir haben eine gute Einigung über den Erweiterungshaushalt erzielt. Unter Berücksichtigung der Entscheidung der Französinnen und Franzosen und zusammen mit unseren europäischen Partnern, an erster Stelle mit Deutschland, werde ich unter österreichischem Vorsitz und in enger Abstimmung mit ihm Initiativen ergreifen, um den Aufbau eines politischen Europa, eines sozialen Europa, eines Europa der großen strategischen Projekte wieder in Schwung zu bringen.

Und natürlich werden wir weiterhin gegen die Erderwärmung und für die Entwicklung eintreten. Innovative Finanzierungen sind unverzichtbar, ja lebenswichtig für das Gleichgewicht der Welt wie für Gerechtigkeit und Solidarität. Frankreich ist mit gutem Beispiel vorangegangen und erhebt zur Bekämpfung der großen Pandemien eine Abgabe auf Flugtickets. Dies ist ein erster Schritt, sozusagen ein Versuch, eine Vorgabe dafür, wie die Welt ihre Verantwortung übernehmen sollte. Bei der Konferenz im Februar in Paris werden wir hoffentlich eine ganze Reihe von Ländern auf diesem Weg der Gerechtigkeit und der Solidarität in der Welt, der Achtung des Menschen und ganz einfach des politischen Gleichgewichts auf unserem Planeten mitziehen können.

Frankreich wird auch sehr auf die Auswirkungen der WTO-Vereinbarungen von Hongkong achten: auf den Platz der armen Länder im internationalen Handel, auf die Industrie, die Dienstleistungen oder auch die Landwirtschaft. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Verteidigung der Gemeinsamen Agrarpolitik nicht der Vergangenheit angehört und auch nicht die Interessen bestimmter Sektoren vertritt. Wenn die Vereinigten Staaten mit allen Mitteln ihre „green power" verteidigen, wundert sich niemand und jeder versteht das. Also muss das für uns auch so gelten. Denn was bei dieser Politik wirklich auf dem Spiel steht, ist die Sicherheit der Nahrungsmittel, sind Arbeitsplätze, ist unsere Wirtschaftskraft. Eine starke Landwirtschaft ist von wesentlicher Bedeutung für die Zukunft Frankreichs in Europa und in der Welt.

Meine Damen und Herren, unser Treffen ist für mich nicht zuletzt die Gelegenheit, daran zu erinnern, dass Journalisten überall in der Welt allzu oft Opfer von Systemen werden, die glauben, die öffentliche Meinung mundtot machen zu können. 2005 sind 63 Journalisten wegen ihrer Äußerungen gestorben und 126 festgenommen worden. Frankreich verurteilt das natürlich auf das Entschiedenste und unterstützt alle, die für eine pluralistische und freie Presse eintreten.

Zu oft auch werden Journalisten als Geisel genommen. Nach Christian Chesnot und Georges Malbrunot haben wir 2005 die glückliche Befreiung von Florence Aubenas und Hussein Hanoun erlebt. Auch ich rufe auf zur Befreiung aller ihrer Kollegen und ganz allgemein aller Geiseln, die in der Welt festgehalten werden, und insbesondere zur Befreiung von Ingrid Betancourt. Und ich möchte der Familie von Bernard Planche sagen, dass alles, absolut alles getan wird, um so schnell wie möglich seine Rückkehr zu erreichen.

Der Kampf für die Pressefreiheit ist auch ein Kampf dafür, dass sie sich im Rhythmus der technologischen Veränderungen entwickelt und auf dem Weg zur kulturellen Vielfalt und zum Ausdruck der Meinungsvielfalt fortschreitet. Ebenfalls in diesem Sinne habe ich beschlossen, einen internationalen Nachrichtensender einzurichten, als Stimme und Blick Frankreichs auf die Welt, der, wie Sie wissen, noch in diesem Jahr ausstrahlen wird. (...) .







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