Fernsehinterview mit Staatspraesident Jacques CHIRAC anlaesslich des franzoesischen nationalfeiertags - auszuege -

Fernsehinterview mit Staatspraesident Jacques CHIRAC anlaesslich des franzoesischen nationalfeiertags - auszuege -


Paris, 14. Juli 2006

Nahost

(...) Ich bin schockiert über die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten. Vor einigen Wochen noch hatte man oder hatte ich gedacht, der Weg zu Stabilität und Frieden wäre nun eingeschlagen. Ich hatte zu dieser Zeit Gelegenheit, zuerst mit Mahmud Abbas und anschließend hier in Paris mit dem israelischen Premierminister Ehud Olmert zu sprechen, und ich hatte das Gefühl, der Weg des Friedens wäre eingeschlagen. Die aktuellen Ereignisse sprechen jedoch dagegen.

Bei einer derartigen Sache sind alle verantwortlich.

Es gibt zwar einen Angreifer und einen Angegriffenen, aber alles hängt davon ab, wie man diese Begriffe definiert. Ich möchte zunächst sagen, dass man sich angesichts der neuesten Nachrichten fragen kann, ob heute nicht der Wunsch existiert, Libanon zu zerstören – die Infrastruktur, die Straßen, die Kommunikationswege, die Energieversorgung, den Flugplatz.

Warum? Libanon ist ein Land, mit dem Frankreich seit sehr langer Zeit freundschaftliche und solidarische Beziehungen pflegt. Frankreich ist also bei diesem Thema besonders empfindlich. Ich finde, wie ganz Europa auch, dass die derzeitigen Reaktionen in keinem Verhältnis stehen.

Es müssen dringend Initiativen ergriffen werden. Ich habe gestern lange mit UN-Generalsekretär Kofi Annan telefoniert und ihm eine Initiative vorgeschlagen. Ich freue mich, dass er diese schließlich in Betracht gezogen hat, denn heute Morgen wurde mit größter Dringlichkeit die Entsendung einer Delegation der Vereinten Nationen vor Ort beschlossen, die den Generalsekretär vertritt und Gespräche mit allen Parteien führen kann. In Libanon, falls die Einreise möglich ist, aber auch in Israel und Ramallah. Eine Delegation, die alle betreffenden arabischen Länder besuchen soll, Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Katar und zuletzt Syrien. Ich sage zuletzt Syrien, da im Zentrum dieses ganzen Problems mit Sicherheit eine Handlung liegt, die mit Syrien besprochen werden muss.

Welche Verantwortung trägt diese Delegation, welche Ziele hat sie? Wie ich Kofi Annan sagte, ist das Hauptziel die Befreiung der israelischen Gefangenen, der drei Soldaten: Gilad Schalit, den die Hamas entführt hat, und der beiden Soldaten, die von der Hisbollah im Libanon entführt worden sind. Das ist von entscheidender Bedeutung. Zweitens muss der totale Waffenstillstand erreicht werden und drittens die Modalitäten für die Einrichtung einer militärischen Schutzzone an der Grenze zwischen Israel und Libanon untersucht werden, wie wir es vor einigen Jahren mit Libanon gemacht haben.

Ich meine eine internationale militärische Schutztruppe, um diese Art Vorfall zu vermeiden, denn zu den wesentlichen Zielen gehört, dass die Hisbollah und die Hamas unzulässiges, inakzeptables und unverantwortliches Handeln unterlassen. Die Raketenbeschüsse Israels von palästinensischen Gebieten aus erfolgen nun regelmäßig, und das dürfen wir nicht hinnehmen. Wir haben es mit einem Prozess zu tun, der von der Hamas einerseits, von der Hisbollah andererseits getragen wird, und der uns nach der Logig Provokation/Vergeltung wer weiß wohin bringen wird. Auf jeden Fall wird er verhängnisvoll für Libanon sein. Diese Leute sind völlig unverantwortlich, vor allem gegenüber der Bevölkerung Libanons.

(...) Ich habe das Gefühl – um nicht zu sagen, ich bin überzeugt davon -, dass die Hamas einerseites, die Hisbollah andererseits, diese Initiativen nicht ganz alleine ergriffen haben und demzufolge die Unterstützung der ein oder anderen Nation dahintersteckt.

(...) Jedenfalls freue ich mich, dass der Generalsekretär die Entsendung dieser Delegation befürwortet hat. Ich habe auch die Europäische Union aufgerufen, dringend Javier Solana vor Ort zu schicken. Ich denke, auch dies wird geschehen.

So oder so müssen wir ständig initiativ bleiben in dieser wirklich dramatischen Angelegenheit.

Iran

Die Beurteilung der Reaktionen Israels in Bezug auf Libanon scheinen mir um einiges klarer zu sein als die Haltung zu Iran, das immer weiter in Richtung Bereitstellung von Atomwaffen geht. (...)

Wir haben Iran Vorschläge hinsichtlich einer nuklearen Zusammenarbeit zu zivilen Zwecken gemacht, auf die das Land ein Anrecht hat, was wir nicht bestreiten; hinsichtlich einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der politischen Stabilität in der Region. Und im Grunde auch hinsichtlich eines Elements, das für die Iraner in Wirklichkeit wesentlich ist, selbst wenn man nicht viel darüber spricht: Es handelt sich um die Anerkennung des iranischen Regimes durch die Amerikaner.

Auf diese ausgestreckte Hand, die Iran ergreifen sollte, solange sie da ist, antwortete Iran mit einem „Vielleicht". Anders gesagt entgegneten die zuständigen iranischen Behörden: „Wir werden in der zweiten Augusthälfte antworten." Wir bleiben also in Ungewissheit.

Ich wünsche mir eine Einigung. Wir werden über all dies beim G8-Gipfel in Sankt Petersburg sprechen, der ab morgen stattfindet und zu dem alle betroffenen Länder zusammenkommen. Aber auch dieses Thema beunruhigt mich sehr.

Die Lage im Mittleren Osten ist derzeit sehr unsicher und instabil. (...)

Die Situation ist wirklich gefährlich und man muss sehr aufpassen. Alle Initiativen zählen, alle Äußerungen zählen. Sie kann jederzeit in die eine oder in die andere Richtung entgleisen.

In gewisser Weise erinnert mich die Situation an den Irakkrieg, als man sich fragte, wer nun Recht hatte: Diejenigen, die den Krieg wollten oder diejenigen, die ihn nicht wollten. Ich denke weiterhin, dass diejenigen Recht hatten, die keinen Krieg wollten. Aber wir befinden uns auch in einer Situation, die mit viel Erfahrung, mit viel Feinheit angegangen werden muss, denn wir befinden uns ständig am Rande des Abgrunds.

Afrika

Zwei- oder dreihundert Tausend Tote und mindestens zwei Millionen Flüchtlinge unter desaströsen Bedingungen – das ist zunächst ein echtes humanitäres Drama. Darfur, im Herzen Afrikas, ist so groß wie Frankreich. Es hat etwa sechs Millionen Einwohner und gehört zu Sudan. Die humanitäre Lage dort ist dramatisch. Eine von humanitären Organisationen unterstützte Truppe der Afrikansichen Union (...) soll die Ordnung wiederherstellen.

(...) Wir haben auf Initiative Frankreichs vorschlagen, die Truppe durch die UNO abzulösen, da die Mittel der Afrikanischen Union heute nicht ausreichen. Insgesamt dürften dort 5.000 oder 6.000 Mann sein und man bräuchte dreimal so viele. Wir haben also erreicht, dass die UNO die Nachfolge antritt und das wird geschehen.

Die Situation ist dennoch sehr schwierig und umso schwieriger, da das restliche Afrika durch diese Sache destabilisiert wird. Tschad wird unbestreitbar destabilisiert durch die Flüchtlinge, die massiv aus Sudan kommen. Wir kümmern uns um sie, so gut es geht. Aber auch die Zentralafrikanische Republik ist auf dem Weg der Destabilisierung.

Dieses unglückliche Afrika, das ein wenig Hoffnung aus dem wirtschaftlichen Aufschwung schöpfte, mit einem Wachstum, das zum ersten Mal beachtlich war, ist erneut in ein derartiges Drama verstrickt. Frankreich hat sehr große finanzielle Anstrengungen unternommen (...). Es hat uns fast 200 Millionen Euro für Darfur gekostet, das darf nicht vernachlässigt werden. Wir werden uns weiterhin bemühen, aber ich muss zugeben, dass die Situation dramatisch ist.

Wirtschaftliche und soziale Lage

Der Arbeitsmarkt hat sich seit einem Jahr erheblich verbessert. Seit einem Jahr zählt Frankreich 260.000 Arbeitslose weniger. Wichtiger noch als diese allgemeine Verbesserung ist allerdings, dass diese immer schneller erfolgt. In den letzten drei Monaten waren es 100.000 Arbeitslose weniger; das heißt 260.000 in einem Jahr und 100.000 in den letzten drei Monaten. Ich möchte diese Beschleunigung noch fördern. (...)

Frankreich ist die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Es ist eines der wichtigsten Exportländer. Frankreich ist ein Land, das an erster oder zweiter Stelle beim Empfang ausländischer Investitionen steht. Weshalb? Weil man davon ausgeht, dass es in Frankreich mehr Fähigkeiten gibt, auf die Bedürfnisse der Entwicklung einzugehen als andernorts. Frankreich ist das Land mit der am besten ausgearbeiteten sozialen Sicherung weltweit. (...) Frankreich hat eine kulturelle Macht, insbesondere durch die Frankophonie, eine militärische Macht, aber auch eine beachtliche diplomatische Macht. Ich habe dauernd mit europäischen und internationalen Partnern zu tun und sehe deswegen, wie wichtig die Stimme und die Initiativen Frankreichs sein können. Frankreich ist führend in zahlreichen Gebieten, insbesondere bei der Energie. Das haben wir gesehen, als es um den Standort von ITER ging. Die ganze Welt hat sich beworben, Japan usw.

Frankreich wurde ausgewählt. Und warum? Weil man der Meinung war, dass unsere intellektuelle und wissenschaftliche Kapazität größer war als die der anderen Kandidaten. (...)

Die Absprache mit den Gewerkschaften und mit den Berufsverbänden über die Senkung der Lohnnebenkosten muss fortgeführt werden, da sie eine wesentliche Bedingung dafür ist, der Beschäftigung einen neuen Impuls zu geben.

Ich habe die Regierung darum gebeten, schnell, also in den kommenden Monaten, eine Reform durchzuführen, um die Orientierung Jugendlicher als öffentliche Dienstleistung einzuführen. Denn man kann nicht einfach zu viele Jugendliche in Branchen ankommen lassen, von denen man weiß, dass keine Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Man muss in jedem Fall Beratungen durchführen, um diese Zustände zu vermeiden, die für alle, für die Wirtschaft und insbesondere für die Jugendlichen, schädlich sind. Wir brauchen eine Reform, um den sozialen Dialog intensivieren zu können. (...)

Ich möchte erreichen, dass es gesetzlich verboten ist, am Arbeitsrecht zu rütteln, ohne vorher mit den Gewerkschafts- und Berufsverbänden gesprochen zu haben.

Drittens haben wir eine Reform verabschiedet, die noch nicht bekannt ist, da eben erst

für sie gestimmt wurde. Es betrifft die Mitarbeiteraktien. Das ist sehr wichtig. Ohne Reform bei den Mitarbeiteraktien wird es keine Antwort auf den legitimen Bedarf der Franzosen auf die Steigerung ihrer Kaufkraft geben. (...)

Wir werden vor Jahresende Maßnahmen zum Schutz der Kinder ergreifen und die Reform der Vormundschaft wird auch bereits erwartet, das ist sehr wichtig. Ein weiteres Anliegen ist die Parität in der Politik, wo wir bestimmte Maßnahmen ergreifen müssen, insbesondere um die politischen Parteien zur Einhaltung der Parität zu bringen. (...).





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