Pressekonferenz mit Staatspräsident Jacques Chirac nach dem informellen Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs

Pressekonferenz mit Staatspräsident Jacques Chirac nach dem informellen Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs


(Auszüge)

Hampton Court, 27. Oktober 2005


(···) Es gibt einen sehr guten Bericht der Kommission, der insbesondere mehrere Punkte aufnimmt, die für die Zukunft des europäischen Aufbauwerks wichtig sind und in dem die großen Ziele festgelegt sind, die vertieft und zugleich im Einzelnen erreicht werden müssen.
Dabei ging es in erster Linie um die Probleme Forschung und Innovation. Jedem ist klar, dass Europa beim aktuellen Stand der Dinge seit einiger Zeit in Forschung und Innovation hinter den großen internationalen Akteuren zurücksteht und dass es für Europa lebenswichtig ist, die Lage wieder in Ordnung zu bringen.

Dazu sind Entschlossenheit, ein entsprechendes Vorgehen und Mittel erforderlich. Wir haben alle diese Punkte besprochen. Ich habe insbesondere auf die Anstrengungen hingewiesen, die Frankreich und Deutschland bereits seit mehreren Monaten unternehmen, mit staatlichen Mitteln wie mit dem Ansporn der großen Unternehmen und ebenso der dazu gehörigen kleinen und mittleren Unternehmen und in Bereichen, welche die Hochtechnologien der Zukunft bedingen. Ich habe vorgeschlagen, dieses Verfahren auf alle Staaten, die sich in der Union anschließen möchten, auszuweiten. Ich habe auch auf die Notwendigkeit hingewiesen, die EU-Mittel für Forschung und Innovation beträchtlich zu erhöhen.

Dazu habe ich vorgeschlagen, eine Empfehlung von Jean-Claude Juncker aufzunehmen (...) und die Europäische Investitionsbank einzubeziehen (...).

Ebenso haben wir über die Perspektiven und Anstrengungen gesprochen, die auf europäischer Ebene in Sachen Einwanderung erforderlich sind. Nach den Dramen in Ceuta und Melilla, die kein spanisches oder marokkanisches Problem sind, sondern ein weltweites Problem, zumindest jedoch ein europäisches Problem, das ein tieferes Bewusstsein und eine Antwort erfordert, hatten wir mit dem spanischen Regierungschef Zapatero eine gemeinsame Position erarbeitet. Und darüber hatten wir eine interessante Debatte.

Ein Teil der Umsetzung einer Politik zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung wird unbestritten durch Menschenhandel gefördert, den wir unter Kontrolle bekommen und bestrafen müssen. Das ist der Teil, der die Behörden, die Polizei und die Gerichte betrifft. Aber es gibt noch ein zweites Phänomen, das berücksichtigt werden muss und eine wirkliche Antwort verdient: Diese Leute, die ihr Land, vor allem in Subsahara-Afrika, verlassen, um nach Norden zu gehen, mit dem Ziel, nach Europa zu gelangen, gehen nicht von Zuhause weg, um weg zu gehen, sondern weil sie dort Not leiden.

Folglich ist da ein ernsthaftes Problem, für das Frankreich sich schon lange einsetzt, nämlich das Problem der Entwicklung und die Umsetzung der erforderlichen Mittel, um die Entwicklung dieser Länder - ob nun Ursprungs- oder Transitländer - zu ermöglichen und den Leuten die Möglichkeit zu geben, zu Hause bleiben zu können. Ich habe darauf hingewiesen, dass uns das natürlich nicht gelingen würde, ganz gleich, welche - wenngleich positiven - Anstrengungen die Länder der Europäischen Union auch unternehmen, um die Mittel der öffentlichen Entwicklungshilfe zu erhöhen. Beim letzten UNO-Treffen war es ebenso, wir können nicht ausreichend Mittel zur Verfügung stellen, um vor Ort normale Lebensbedingungen zu schaffen, in Ländern, die überdies noch eine ganz außergewöhnliche Bevölkerungsentwicklung aufweisen, besonders in Afrika.
Es gibt also folglich keine andere verantwortliche Lösung, als neue Finanzierungsmöglichkeiten zu finden, die auf die eine oder andere Weise aus einer internationalen Besteuerung kommen.


Wir haben beim letzten UNO-Treffen eine Entscheidung über unseren Vorschlag zu einer Flugticketsteuer getroffen, das ist aber ein ganz bescheidener Versuch, nur ein Anfang. Wie Sie wissen, haben wir in dem Bericht, den wir verteilt haben und der unter der Leitung von Herrn Landau verfasst wurde, eine Reihe von Optionen vorgeschlagen, die innovative Finanzierungen möglich machen, wodurch Europa dann die Mittel hätte, in einigen dieser Länder normale Lebensbedingungen zu schaffen, damit sie nicht versucht oder gezwungen sind, auszuwandern. Zwei Maßnahmen müssen also zeitgleich von der Europäischen Union gewährleistet werden: zum einen muss die Polizei handeln und zum anderen muss die Entwicklung betrieben werden. Das eine geht nicht ohne das andere.
(···)

Über den Terminplan des EU-Vorsitzes hinaus war mir daran gelegen, ein Wort zum Fortgang der WTO-Verhandlungen zu sagen. Sie wissen, dass die Kommission heute oder morgen einen neuen Vorschlag zum landwirtschaftlichen Teil der WTO-Gespräche unterbreiten wird. Ich war veranlasst, die Haltung Frankreichs genauer darzustellen, und zwar, dass wir eine ganz einfache und klare Haltung einnehmen, wir respektieren nämlich umfassend die Gemeinsame Agrarpolitik, so wie sie 2003 abgeändert wurde, um eben die notwendige Öffnung auf die Welt
hin zu ermöglichen. Zum anderen fordern wir von unseren großen Partnern den Ausgleich, den wir zu Recht erwarten, und zwar sowohl auf Agrarebene wie auch bei den Dienstleistungen und der Industrie. (···)

zu Iran

Was Iran angeht, so will ich Ihnen als allererstes sagen, dass ich über die Erklärungen des iranischen Präsidenten zutiefst empört war.
Ich finde sie, ehrlich gesagt, völlig unsinnig und unverantwortlich. Der iranische Präsident bringt sein Land in die Gefahr, aus dem Kreis der Nationen ausgeschlossen zu werden. Was für eine große Nation wie Iran nicht hinnehmbar ist. Es hat ja eine Erklärung gegeben, die vom britischen EU-Vorsitz ausgearbeitet worden ist, die angenommen wurde und jetzt verteilt werden muss.

zum Mehlis-Bericht

So wie auch auf Vorschlag Frankreichs im Anschluss an die Übergabe des Mehlis-Berichts eine Erklärung angenommen und verteilt worden ist, in der die Europäische Union u. a. ihre Solidarität mit Libanon zum Ausdruck bringt. Das Urteil der 25 EU-Staaten über die Haltung und die Zusammenarbeit Syriens in der internationalen Untersuchung infolge der Ermordung des früheren Premierministers Rafik Hariri war sehr streng. Sie haben natürlich ihren Willen bekräftigt, Detlev Mehlis die Mittel zu verschaffen, damit er seine Untersuchung bis zu Ende durchführen kann und alle erforderlichen Konsequenzen daraus zu ziehen, u. a. beim nächsten UN-Sicherheitsrat in einer Woche.

Erstens bin ich persönlich für einen internationalen Gerichtshof, so wie der Führer der libanesischen Mehrheit, Saad Hariri, der Sohn des früheren Premierministers, gefordert hat. Ich bin allerdings nicht sicher, dass man, aus allen möglichen Gründen, die ich sehr gut verstehe, einen internationalen Gerichtshof bekommen kann. Und wenn wir ihn nicht bekommen, muss unbedingt auf die Forderung der libanesischen Regierung hin ein Verfahren stattfinden, damit die Verdächtigen, die in dem Mehlis-Bericht genannt wurden oder werden, einem Urteil, einem objektiven Urteil zugeführt werden.
Nun versteht angesichts der vorliegenden Situation jeder, dass heute ein solches Verfahren in Libanon nicht alleine unter Mitwirkung der libanesischen Justiz stattfinden kann, aufgrund der Lage und der Pressionen, denen sie usgesetzt sein könnte. Man muss also, wenn es kein internationales Gericht gibt, ein System finden - es gibt einige -, in dem Gerechtigkeit und ein ordentliches Gerichtsverfahren gewährleistet sind.

Das setzt auch voraus, dass Detlev Mehlis Zeit hat, seine Untersuchung zu Ende zu führen. Er hat um Verlängerung bis 15. Dezember gebeten und sie erhalten. Es ist nicht klar, dass nicht darüber hinaus verlängert werden muss, und es gibt ein Hauptproblem, das deutlich vom UNSicherheitsrat benannt werden muss, mit allen Folgen, die es mit sich bringt, nämlich die Zusammenarbeit von Seiten Syriens. Syrien hat bisher ganz eindeutig nicht kooperiert. Ich wiederhole nicht, was im Mehlis-Bericht steht. Es hat nicht kooperiert, also muss man so vorgehen, dass es gezwungen ist, zu kooperieren.

zur WTO

Ich möchte Sie zunächst daran erinnern, dass die landwirtschaftlichen Produkte der ärmsten Länder ohne jegliche Erhebung von Zöllen in die Europäische Union eingeführt werden, im Namen des so genannten „Alles außer Waffen“-Beschlusses. Es ist der einzige offene Markt ohne jeglichen Zoll, das heißt ohne Einschränkung für die Produkte der ärmsten Länder. Das ist nicht unerheblich. Es erklärt wahrscheinlich, warum 85% der landwirtschaftlichen Exporte aus Afrika, die ein wesentliches Element der Entwicklungsländer darstellen, nur an Europa gehen.

Europa ist der Hauptimporteur landwirtschaftlicher Produkte weltweit.
Es führt alleine mehr als die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Japan und Neuseeland ein. Eine derartige Kritik beweist also mangelnde Ehrfurcht vor der Wahrheit. Wir haben uns jedenfalls in dieser Hinsicht nichts vorzuwerfen.
In Wahrheit führt in dem heutigen System die Haltung der Vereinigten Staaten und der großen aufstrebenden Länder zur Verarmung der Entwicklungsländer. Bei dem heutigen Stand der Dinge sind wir, die Europäische Union und insbesondere Frankreich, die einzigen, welche übrigens traditionsgemäß die Interessen der Entwicklungsländer vertreten, die das genau wissen. Beim Frankreich-Afrika-Gipfel vor drei Jahren hatte ich vorgeschlagen, jegliches Exporthindernis aufzuheben, und mein Vorschlag gilt immer noch.
Woran die Schwellenländer am meisten leiden, sind die Systeme der Vereinigten Staaten, insbesondere im Bereich der Nahrungsmittelhilfe, die für die ntwicklungsländer dramatisch ist.

Die Vereinigten Staaten produzieren 150% ihres eigenen Verbrauchs an Agrarprodukten, im Vergleich zu 110% in Europa. Sie sind also in diesem Bereich das größte Problem. Europa weist zwar seit der Gemeinsamen Agrarpolitik einen Überschuss auf, aber immer noch in kleineren Mengen als die USA. Das erklärt auch die Überzeugung der Vereinigten Staaten, keinen Schritt in die Richtung zu gehen, welche die Entwicklungsländer einschlagen wollen, sondern in die der aufstrebenden Länder, die ja andere Interessen haben. (...)
Die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich ist eine in Europa unumgängliche Beziehung. Nicht weil Deutschland und Frankreich ihre Standpunkte durchsetzen wollen, sondern weil Europa automatisch vorwärtsgeht, wenn unsere beiden Länder sich einig sind, und stehen bleibt, wenn sie sich nicht einig sind. Das ist automatisch so, würde ich sagen. Europas ganze Geschichte seit 50 Jahren bezeugt das. (...)

In Sachen Landwirtschaft kann die deutsch-französische Einigung nur verstärkt werden. In den anderen Bereichen wird es genauso sein, denn es ist unumgänglich. Die deutsch-französische Einigung ist für die Europäer unumgänglich. (...)





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