Ansprache Von Herrn Jacques CHIRAC, Präsident der Französischen Republik Aus anlass der Tagung für Kultur in Europa

ANSPRACHE VON HERRN JACQUES CHIRAC
PRÄSIDENT DER FRANZÖSISCHEN REPUBLIK
AUS ANLASS DER TAGUNG FÜR KULTUR IN EUROPA

PARIS, DEN 2.MAI 2005.

Meine Damen und Herren Minister,
meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde,

Es ist mir eine sehr große Freude, Sie alle heute hier versammelt zu sehen - als Künstler und Vertreter des Geisteslebens, als Verantwortliche aus Kultur und Politik in den 25 Ländern der Europäischen Union. Ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie der durch Frankreich ausgesprochenen Einladung in so hoher Zahl gefolgt sind.

Sie sind diejenigen, die Tag für Tag mit ihrem künstlerischen Schaffen, mit ihren Schriften und in ihren zahlreichen Kontakten und Begegnungen untereinander an der Vollendung dieses Europas der Künstler und der Denker arbeiten. Dieses auch heute noch in statu nascendi befindliche Europa hat, getragen durch eine viele Jahrhunderte alte Kultur und Zivilisation, unserem Kontinent auf unermüdliche Weise Dynamik verliehen und hat ihn voranschreiten lassen auf dem Wege in dieses lange, faszinierende Abenteuer, als das ich seine Einigung betrachte.

In der Tat hat Europa sich in der Kultur verwirklicht, lange bevor es im wirtschaftlichen und politischen Sinne existierte. Seit eh und je haben unsere Kulturen sich in ihrem Zusammenklang gerieben und dadurch eben auch bereichert, haben sie nach und nach dafür gesorgt, dass sich ein gemeinsames Erbe, gemeinsame Gefühle und Empfindungen, ein gemeinsames Bewusstsein herausbilden konnten. In ihren Kontakten und Begegnungen, aber auch durch ihre Konfrontationen haben die Völker Europas im Laufe der Jahrhunderte eine gemeinsame Kultur und Identität sowie ein Bündel von gemeinsamen Werten geschaffen. Der Aufbau eines politischen Europas wäre nicht möglich gewesen ohne dieses geteilte Erbe, dank dessen unsere politische Gegenwart erst ihre Wurzeln in unsere gemeinsame Vergangenheit und Geschichte treiben kann.

So sehen wir, wie von der Antike bis zum Mittelalter die verschiedensten künstlerischen und geistig-philosophischen Ausdrucksformen dieses Europas immer wieder, quer über unseren ganzen Kontinent hinweg, durch dieselben Inspirationen, dieselben Eingebungen geprägt waren, auch wenn diese sich natürlich ihrerseits auf das Vielseitigste und immer wieder neu bereichern durften. So folgt den Alten Griechen die Welt der Römer und schöpft ihrerseits aus dem keltischen Erbe, bevor das Abendland sich mit dem „weißen Mantel der Kirchen" bedeckt, wie es der Mönch und Chronist des 11.Jahrhunderts, Rodulfus der Kahle in seiner Schilderung der damals herrschenden Endzeiterwartung so treffend formuliert. Die Gothik folgt der Romanik, stellt sich aber auch dem bereichernden Einfluss des Maurischen in Andalusien und des Byzantinischen in Venedig. Ob in Klöstern und Abteien oder an den Universitäten der damaligen Zeit: es tritt nach und nach ein gemeinsames Bewusstsein zutage und gewinnt zunehmend an Gestalt.

So ist Europa zur Zeit der Renaissance in der Philosophie, in der Wissenschaft, bei Künstlern und Schriftstellern bereits vollzogene Wirklichkeit. Die Humanisten verstehen sich als Bürger einer den ganzen Kontinent umspannenden „République des Lettres", in der die Traditionalisten sich mit den Modernen, die Heiden mit den Christen zusammenfinden - in einer über Nationen und Zeiten weit hinausgehenden Gemeinschaft des Denkens und der Denker.

Das humanistische Europa kennt nur das friedliche Zusammenleben von Religionen und Kulturen, geeint vor dem Hintergrund dieser ebenso reizvollen wie wirkungsstarken Erkenntnis, dass „nichts größere Bewunderung verdient als der Mensch selbst".
Schon bald soll jedoch die nüchterne Disziplin der Klassik der Üppigkeit des Barocks folgen, soll der Mensch sich artikulieren und die Macht seines kritischen Verstandes gegen alle geistlich-religiöse, aber auch alle zeitlich-weltliche Gewalt in die Waagschale werfen. Im Namen von Vernunft und Erkenntnis ziehen die Philosophen der Aufklärung kreuz und quer durch Europa.

Ausgehend von Frankreich springt der Funke der Revolution auf ganz Europa über und entfacht die Glut ideologischer und nationaler Leidenschaft. Kein Künstler des neunzehnten Jahrhunderts, der diesen Funken nicht aufnähme und in seinem Werk verarbeitete - von der Blüte der Romantik bis hin zu ihren letzten Metamorphosen, zum Symbolismus oder später zum Jugendstil, dem Art Nouveau. Es sind die Ideale der Menschenrechte und der Demokratie, die Philosophen, Schriftstellern und Utopisten ihren Weg weisen, ihrem Traum von Einheit und Brüderlichkeit Nahrung geben. Das Wien eines Stefan Zweig und seiner „Welt von gestern" strahlt zur Zeit der Jahrhundertwende über einem Kontinent, der seit eh und je durch die jüdische Kultur bereichert worden war; über einem Kontinent, der schon bald die verheerenden „Stahlgewitter" von zwei Weltkriegen, die unsägliche Prüfung des Holocaust erleben sollte.

Aus seinen Trümmern erhob Europa sich zunächst in großer Orientierungslosigkeit. Und doch erfahren seine humanistischen Ideale gerade in der größten Tragödie ihre nachhaltigste Stählung. Es keimt ein neues Bewusstsein. Europa strebt nach politischer und wirtschaftlicher Einheit, um die Gefahren von Krieg und Barbarei für immer zu verbannen. Gestärkt durch ein überzeugendes Projekt haben wir aus unserem Kontinent einen Ort des Friedens, der Demokratie und der Freiheit gemacht. Nach dem Fall der Berliner Mauer hat die Wiederaussöhnung aller Völker, so wie sie jetzt in der Erweiterung Europas Gestalt gewonnen hat, unserem gemeinsamen Streben diesem großartigen und schönen Ziel erst Sinn und Inhalt verliehen.

Bisher konnte Europa sich trotz der tief verwurzelten Sehnsucht seiner Völker nach Einheit und Einigkeit zu keinem Zeitpunkt aus dem festen Griff von hartnäckigen, ideologischen Rivalitäten lösen, die ihm keine Alternative ließen zu der bestehenden Zerrissenheit und Uneinigkeit in seinen Werten und Projekten. Nun jedoch ist Europa versöhnt mit sich selbst und seiner Geschichte. Es blickt in eine Zukunft, die ihm bisher versperrt war, und endlich dürfen unsere Nationen sich als Schmiede ihres eigenen Schicksals fühlen, getragen durch dieselben Ideale und Werte. Es ist diese Entwicklung, die es uns heute ermöglicht, uns eine Verfassung zu geben und damit die Zukunft Europas nicht nur auf gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen aufzubauen, sondern auch auf unserer Wertegemeinschaft, auf der Gemeinsamkeit von Grundsätzen und Idealen, dank derer Europa sich als ein weltweit einzigartiger Raum fühlen darf.

Seit fünfzig Jahren arbeiten wir am Aufbau Europas. Heute kann niemand verkennen, welch ungeheurer Weg dabei zurück gelegt wurde. Und niemand kann das Gebot der Stunde missverstehen: Europa muss die nächsten, vor ihm liegenden Etappen angehen, sich den neuen Herausforderungen stellen und auf neue Fragen die zutreffenden Antworten geben.

Das Projekt, das seit einem halben Jahrhundert die Grundlage des europäischen Gedankens darstellt, müssen wir nunmehr in neue Bahnen lenken und dabei entschlossen unsere gemeinsamen Werte und unsere gemeinsame Identität bekräftigen, uns zu diesen Idealen bekennen, ohne die Europa auf immer unvollkommen bliebe. Und der Europagedanke muss in verstärktem Masse konkret Gestalt annehmen, um die Herzen ebenso erreichen zu können wie die Vernunft. Um eine stärkere Magnetwirkung erzielen zu können, muss Europa seiner Bevölkerung neue Wege aufzeigen, neue Hoffnungen und Erwartungen vermitteln, neue Vorstellungswelten eröffnen.

Genau dies sind die Aufgaben, die uns durch die Erbauer Europas auferlegt werden. Für sie gibt es keine nationalen Grenzen. Wir Franzosen denken in diesem Zusammenhang gerne an Persönlichkeiten wie Giorgio Strehler, wie er „Die Hochzeit des Figaro" in der seinerzeit durch Rolf Liebermann geführten Garnier-Oper inszenierte, nachdem er soeben in Paris seine Vereinigung der Theater Europas gegründet hatte. Oder an Pontus Hulten, den Leiter des Museums für Moderne Kunst im Centre Georges Pompidou. Die Beispiele sind so zahlreich··· Denken wir auch einen Augenblick an die vielen herausragenden Koproduktionen im europäischen Filmschaffen - ob an Viscontis „Leoparden" oder an Wim Wenders „Der Himmel über Berlin". All' diese Beispiele rufen uns auf zu der Erkenntnis, zu der Anerkenntnis, dass das Projekt Europa von seinem Wesen her ein kulturelles Projekt ist. Ja, hier liegt womöglich gar seine erste und wichtigste Bestimmung: in dem Bedürfnis, der Entschlossenheit von ebenso vielfältigen wie unterschiedlichen Völkern und Nationen, ein gemeinsames Ideal von Kultur und Zivilisation zu verfolgen und dabei gleichzeitig der jeweils eigenen Identität treu zu bleiben.

Denn - Europäer zu sein bedeutet keinesfalls, auf das eigene Selbst zu verzichten. Es bedeutet im Gegenteil, noch dezidierter Franzose zu sein, Deutscher, Italiener, Spanier oder Pole oder Angehöriger einer anderen Nation. Es bedeutet, seine Wurzeln in den Boden von Nationen zu treiben, die geeint sind durch die Macht eine gemeinsamen Schicksals. Seit dem Mittelalter haben kulturelle Bewegungen unseren Kontinent immer in seiner Gesamtheit erfasst. Auch Blüte und Leben nationaler und regionaler Kulturen speisen sich daraus. Was unsere tief verwurzelte Einheit ausmacht, lässt in Wirklichkeit gerade unsere Vielfalt zu immer neuen Höhen empor streben.

Aus den Spuren unserer gemeinsamen Geschichte ist uns ein reiches Erbe erwachsen. Unsere Erinnerungen, unsere Vorstellungswelten, unser ganzes Denken sind verwoben in einem Gespinst aus gemeinsamen, geteilten, ineinander verzahnten Bezügen. Die Wurzeln unserer kulturellen Zugehörigkeit nähren sich aus demselben Boden. Und über unseren Träumen scheint dasselbe Licht.

Die Kultur als der Wahrer dieses vielfältigen Erbes bereitet es ihrerseits auf, sie durchwirkt es, bereichert es ungezwungen und nach ihrem Gutdünken durch die Kreationen unserer modernen Zeit, um das Ergebnis sodann den kommenden Generationen anzubieten. In diesem kreativen Schwung, den wir in erster Linie als Bekenntnis unseres Glaubens an die Freiheit des Menschen und an die Zukunft verstehen sollten, verschafft sich im Übrigen auch die Identität Europas den angemessenen Ausdruck. Sie ist nicht etwas, das die Geschichte uns geschenkt hätte. Nein, sie ist vielmehr das Ergebnis eines Auflehnens, einer Revolte, eines Aufbäumens gegen die Dramen der Geschichte, nach Jahrhunderten des Krieges und der Zerrissenheit. Gerade diese Entschlossenheit, das Zwangsläufige, das unausweichlich Tragische zu durchbrechen, macht uns die wahre Größe und die eigentliche Kühnheit des Projekts Europa deutlich.

So wurzelt Europa auch in einem bestimmten Bild vom Menschen und von seiner Würde. Tag für Tag sind wir gemeinsam bemüht, dieses hehre Ziel zu erreichen, den Menschen und das Menschliche in seiner umfassenden Gesamtheit anzunehmen - bis hin zu seinen Widersprüchen -, in ein und derselben Synthese die Emanzipation des Individuums und das Bedürfnis nach gemeinsamer Verankerung zusammenzuführen, das Freiheitsstreben und den Zwang zur Solidarität, das Streben nach Universalität ebenso wie die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit der Völker.

Dieses Ideal ist im Übrigen zu keinem Zeitpunkt von größerer Aktualität gewesen als heute. Während die falschen Propheten des Aufeinanderprallens der Kulturen uns Konflikte zwischen Kulturen und Zivilisation vorhersagen, gegen die sich alles in uns aufbäumt, erkennen wir, dass es keine Alternative ist, sich einzuigeln in den Bastionen unserer Einzelstaatlichkeit. Abschottung und Isolierung wären für unsere Kulturen regelrecht verhängnisvoll. Unsere Kulturen brauchen den Dialog und den Austausch - in Anerkennung des Anderen und im Respekt vor ihm. Mehr denn je müssen wir heute darauf achten, dass Europa jederzeit offen bleibt für die anderen Kulturen, dass Europa Künstlern ebenso wie allen Vertretern des Geisteslebens ein Hort der Offenheit und der Aufnahme sein kann, ein Ort, an dem sie Inspiration erfahren und Ausstrahlung vermitteln können.

In einer Welt, in der es offenbar nur noch einen geringen -und zudem ständig schrumpfenden- Stellenwert für alles gibt, was nicht direkt und messbar dem Profitstreben dient, obliegt es auch der Kultur und den Kulturen, sich dem alles niederwalzenden 08-15 Denken zu widersetzen. Mit Entschlossenheit müssen wir die Vielfalt der Kulturen in dieser Welt verteidigen, da von jeder Uniformisierung eine riesige Gefahr ausgehen würde. Die Lebendigkeit und die Vitalität unseres Kulturschaffens ist einer der wichtigsten Trümpfe, die wir ausspielen können, um dieses Ziel zu erreichen.

In dem Augenblick, da wir das politische Europa verwirklichen, sollte unser gemeinsames Streben mehr als zu jedem anderen Zeitpunkt durch die kulturelle Komponente geprägt sein. Diese Verantwortung ist nicht den Politikern allein vorbehalten, sie sollten sie vielmehr mit den Künstlern und den Vertretern des Geisteslebens gemeinsam tragen. Und genau hier liegt auch der tiefere Sinn des Aufrufs „Für ein auf der Kultur begründetes Europa", der am 8.Juni 2004 erging und dem ich einen größtmöglichen Widerhall wünsche.

Alle Staaten in Europa erkennen die Bedeutung der Kultur für das Leben ihrer Bürger und ihres Gemeinwesens an. Die Kultur ist Ausdruck des vornehmsten Strebens des Menschen, seines Durstes nach der Schönheit, dem Vollkommenen, dem Absoluten und dem Wahren. Die Kultur ist der Träger und der Wahrer der Dynamik und der Kreativität, ohne die unsere Gesellschaften keine Fortschritte erzielen würden. Und sie weist dem Einzelnen den Weg zu Emanzipation und Entfaltung. Für alle Nationen Europas ist Kultur alles andere als Nebensache, als subsidiärer Lebensinhalt - sie ist für uns alle ein unverzichtbarer Grundwert.

Und wir sind uns bewusst, wir anerkennen, dass die Kultur nicht einfach dem freien Spiel des Marktes ausgesetzt werden darf: Ebenso wenig übrigens, wie wir zulassen dürfen, dass sie in die Abhängigkeit vom Staat gerät. Konzentration bedeutet immer Bedrohung der Vielfalt, ebenso übrigens wie ungezügelte Konkurrenz. Daher ist es ebenso erforderlich wie legitim, dass die öffentliche Hand, dass unser Staat, aber auch unser Europa, als Garanten der Meinungsfreiheit und der kulturellen Vielfalt intervenieren, wenn dies erforderlich ist.

All' diese Überzeugungen sind im Herbst des Jahres 2004 in Berlin anlässlich der auf Initiative von Bundeskanzler Schröder veranstalteten Begegnungen zum Thema „Europa eine Seele einhauchen" auf das nachdrücklichste bekräftigt worden. Unsere Zusammenkunft hier in Paris ist nunmehr die Fortführung dieses Treffens.

Wir müssen unsere Vielfalt kultivieren, sie in uns zum Schwingen und zum Strahlen bringen und uns an die Spitze dieses Kampfes stellen, in dem wir sie in aller Welt verteidigen wollen. Für Europa ebenso wie für die einzelnen Staaten ergibt sich aus diesen Imperativen eine gemeinsame Verantwortung. Eine Verantwortung, die in dem Vertrag zur Begründung einer europäischen Verfassung deutlich dargelegt und erklärt wird.

Wir haben es hier mit einem bedeutenden Schritt nach vorn zu tun. Denn indem Kompetenzen und Aufgaben der Union und der einzelnen Staaten im Bereich der Kultur genau abgegrenzt werden, wird auch die Kulturpolitik entsprechend konsolidiert.

Mit dem Verfassungsvertrag wird die Legitimität eindeutig begründet, mit der jeder einzelne Staat seine eigene Kulturpolitik absteckt und in die Tat umsetzt. Und die Europäische Union sieht sich ihrerseits in ihrer Rolle und Aufgabe bestätigt: Sie hilft den einzelnen Staaten, indem sie ihr kulturelles Wirken unterstützt bzw. abrundet, um, wie es im Verfassungsvertrag heißt, „unser gemeinsames, kulturelles Erbe deutlich zu machen". Zum ersten Male überhaupt wird damit die kulturelle Mission und Komponente des Aufbaus Europas in den Rang eines der grundsätzlichen Ziele der Union erhoben.

Im Bereich der Kultur kann es im Übrigen nicht darum gehen, alles harmonisieren oder integrieren zu wollen. Ein solches Vorgehen kann es nur in Ausnahmefällen geben, um zum Beispiel die wirtschaftliche Dimension bestimmter kultureller Aktivitäten zu berücksichtigen und um deren weitere Entwicklung zu fördern. So haben wir zum Beispiel im Bereich des Schutzes von geistigem Eigentum eine europäische Harmonisierung von oben nach unten vollzogen, dank derer das anspruchsvollste Konzept eines Urheberrechts eingeführt wurde, das man sich nur vorstellen kann. Gemeinsam obliegt es uns nun, die nächsten Schritte zu unternehmen, um insbesondere besser gegen das Unwesen der Piraterie angehen zu können.

Zunächst jedoch gilt es für die Staaten, frei und ungehindert ihre eigene Kulturpolitik auszuarbeiten. So kann ein starkes Europa der Kultur entstehen. In diesem Bereich ist es Aufgabe der Europäischen Union, ihren Mitgliedern die Fähigkeit und die Möglichkeit zur Initiative zu garantieren. Dieses Europa, das in aller Welt für die „exception culturelle" eintritt, muss auch in seiner eigenen Politik, gerade in Bereichen wie Wettbewerbspolitik und Binnenmarkt die Besonderheit der Kultur anerkennen und berücksichtigen.

Auch hier ermöglicht der Verfassungsvertrag uns entscheidende Fortschritte. Die kulturelle Vielfalt rückt durch ihn in den Rang eines grundsätzlichen Ziels der Union. Dies bezeugt bereits ihr neues Leitmotiv, das da lautet: "Geeint in der Vielfalt". Durch die Verfassung für Europa wird auch der Grundsatz verankert, dass die Europäische Union bei all ihrem Handeln, in wessen Namen und in welchem Bereich auch immer, gehalten ist, die jeweiligen kulturellen Gesichtspunkte nicht aus den Augen zu verlieren.

In der Anerkennung des besonderen Eigenwesens von Kulturgütern werden wir uns auf diese Weise auf ein solides, unangreifbares rechtliches Fundament berufen können. Und die Europäische Union wird hier die Grundlage für eine uneingeschränkte Anerkennung der staatlichen Hilfen im Kulturbereich finden. Hier liegt eine der großen Stärken, einer der wichtigsten Punkte der neuen Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen", durch welche die einzelstaatlichen Strukturen zur Unterstützung der Rundfunk- und Fernsehproduktion einen sicheren Rahmen erhalten. Derartige Vorgehensweisen sollten wir auf eine breitere Grundlage stellen, und die Verfassung für Europa wird uns dabei sehr nachdrücklich Hilfestellung leisten.

Auch eine uneingeschränkte Anerkennung der verschiedenen Branchen des Kulturbetriebs wird durch den Vertrag gefördert werden. Sie spielen dort eine zentrale Rolle, wo es um die Unterstützung ganzer Bereiche des künstlerischen Schaffens und um die Vermittlung der Kultur gegenüber der breiten Bevölkerung geht. Die besondere Stellung und die Eigenart dieser kulturellen Wirtschaftszweige gilt es zu verankern. Sie verdienen unsere Förderung und Unterstützung, um sie in die Lage zu versetzen, immer wieder, so oft wie möglich, als wahre Europameister in den weltweiten Wettbewerb einzusteigen. Hier liegt die Relevanz der durch Frankreich unterbreiteten Vorschläge, die auf gemeinsame Überlegungen bezüglich der steuerlichen Behandlung von Kulturgütern abzielen.

Dank des Verfassungsvertrages ruht das Fundament des Europas der Kultur fest und sicher auf der Bekräftigung der jeweiligen Zuständigkeiten der Staaten und der Europäischen Union. Auf dieser Basis muss die Union nun für sich ein stimmiges Gefüge von kulturellen Zielen ausarbeiten. Die Zustimmung der Bürger zu ihrem Projekt wird sich dadurch ohne Zweifel nur erhöhen. Sie wird ihre eigenen Aktionsfelder finden, indem sie die Kultur der einzelnen Mitglieder dazu anregt und veranlasst, in den Dialog mit der Kultur der anderen einzutreten. Auf dieses Ziel wird sie in erster Linie hinwirken müssen.

In einem gewissen Maße tut sie dies übrigens schon jetzt. Aber sie wird dabei behindert durch die Erfordernis der Einstimmigkeit unter den Mitgliedsstaaten. Nach Inkrafttreten des Verfassungsvertrages wird, natürlich mit Ausnahme des Abschlusses internationaler Handelsvereinbarungen bei denen Einstimmigkeit Kulturelle Vielfalt sichert, die qualifizierte Mehrheit ausreichen. Damit wird vermieden werden, dass ein einzelnes Land jede Initiative blockieren kann. Dies ist ein konkreter Fortschritt, durch den das Engagement für Europa neuen Schwung erhält und die Ambitionen Europas für seine Kultur erneut bekräftigt werden können.

Dadurch werden wir auch mehr unternehmen können, um die Verbreitung von europäischen Kulturwerken zu fördern. Denn diese bleiben heute noch allzu oft innerhalb ihrer engen, innereuropäischen Grenzen. In den einzelnen Ländern ist die Kultur der anderen Mitgliedsstaaten in unzureichendem Maße präsent.

Was die Bereiche Kino und Rundfunk sowie Fernsehen betrifft, so gibt es für diesen Befund wirtschaftliche Gründe und Ursachen. Produktionen aus Europa lassen sich nur unter sehr großen Schwierigkeiten exportieren, denn die nationalen Märkte, auf denen sie sich bezahlt machen müssen, sind ungleich enger als die Märkte, auf die unsere großen Konkurrenten zurückgreifen können. Also sind Interventionen der öffentlichen Hand hier durchaus legitim, um diese Konstellation angemessen zu berücksichtigen. Dies ist der Sinn und die Intention des Programms Media, mit dem eben gerade die Verbreitung des europäischen Spielfilms in Europa und in aller Welt verbessert werden soll. Dieses Programm verdient es, verlängert und weiter ausgebaut zu werden.

Bereits heute bemüht die Europäische Union sich um die Förderung der Kontakte zwischen Künstlern und Kulturinstitutionen über den gesamten Kontinent hinweg, um diesen großen Kulturraum in Europa entstehen zu lassen. Ich denke hier zum Beispiel an das THEOREM - Netzwerk, in dem Festivals und Theater zusammengeschlossen sind, um in ganz Europa Stücke und Aufführungen aus den neuen Mitgliedsstaaten zu produzieren und zu verbreiten. Aber mir fällt auch das Netzwerk „VARESE" mit seinen Initiativen im Bereich der zeitgenössischen Musik ein. Alle diese Initiativen gilt es, noch viel zahlreicher zu beginnen und sie auf eine breitere Grundlage zu stellen.

Aus den Workshops, in denen Ihre Zusammenkunft hier inhaltlich vorbereitet wurde, wurden uns sehr interessante Vorschläge unterbreitet. Nennen möchte ich insbesondere die Anregung, ein Gütesiegel für europäisches Kulturerbe zu entwickeln, durch das die zwischen dem Katalog des Welterbes der UNESCO und den nationalen Maßnahmen zum Schutze der Kulturgüter klaffende Lücke geschlossen werden könnte. Würden auf diese Weise unsere Denkmäler, die für unser Kulturerbe wichtigsten Stätten der Erinnerung benannt und erfasst, so könnte dies die Bewusstwerdung um unsere kulturelle Identität nur nachdrücklich fördern.

Ebenso ist der Vorschlag zur Einrichtung eines europäischen Garantiefonds zur Sicherung einer weiteren und leichteren Verbreitung von Ausstellungen in der gesamten Union mit Sicherheit einer sorgfältigen Prüfung wert.

Dem Fernsehsender Arte, diesem glänzenden Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland, könnte es ebenfalls nur gut tun, wenn seine europäische Dimension und Aufgabe eine weitere Stärkung erfahren würde.

Im Sinne dieser Überlegungen habe ich eine Initiative angeregt, um eine virtuelle europäische Bibliothek entstehen zu lassen. Dies ist ein ganz wesentlicher Punkt, wenn Europa den ihm gebührenden Platz auf der zukünftigen Landkarte des Wissens einnehmen möchte. Schon in der unmittelbaren Zukunft besteht für alles, was nicht digital erfasst ist, was nicht „online" zugänglich ist, die Gefahr, schlicht und einfach übersehen, um nicht zu sagen vergessen zu werden. Dabei hat unser Europa in diesem Bereich eine Reihe von Trümpfen auszuspielen: ich denke nicht nur an die beeindruckenden Bestände in den Stätten der Bewahrung unseres geistigen Erbes und besonders in den Bibliotheken, sondern auch an das Know-how unserer Unternehmen im Bereich der Digitalisierung und der Erfassung von digitalisierten Beständen.

Es wird an uns liegen, diese Trümpfe einzusetzen, indem wir unser Vorgehen koordinieren, indem wir sie so bündeln und vernetzen, dass sie eine noch vielfältigere Wirkung erzielen können. Und es liegt auch an uns, gemeinsam die erforderlichen Forschungs- und Entwicklungsbemühungen anzugehen um sicherzustellen, dass wir die involvierten Technologien auch wirklich beherrschen. Schließlich sind sie von der größten Bedeutung für die Zukunft. Das Programm zur Entwicklung einer neuen, deutsch-französischen Suchmaschine, zu dem wir in der vergangenen Woche gemeinsam mit Bundeskanzler Gerhard Schröder den Startschuss gegeben haben, soll natürlich mit diesem Projekt auf das Engste verzahnt werden.

Eine Reihe von Staaten hat im Übrigen bereits die Initiative zur Schaffung einer virtuellen europäischen Bibliothek ergriffen, wie sie ja auch von den Leitern der großen nationalen Bibliotheken in Europa gefordert wird. In der vergangenen Woche hat Frankreich gemeinsam mit Deutschland, Spanien, Ungarn, Italien und Polen die Europäische Union aufgefordert, sich dieses Projekts anzunehmen. Natürlich sind alle anderen Mitgliedsstaaten, die sich uns anschließen möchten, herzlich dazu aufgefordert.

Dank derartiger Initiativen wird Europa im Kampf um die kulturelle Vielfalt an vorderster Front stehen. Dies entspricht seiner eigentlichen Zielbestimmung, und dies ist in unserer heutigen Welt eine der wichtigsten Aufgaben.

Worum handelt es sich dabei konkret gesprochen? Es geht darum anzuerkennen, dass Kultur keine Ware ist, und dass sie demzufolge auch nicht den blinden Kräften des Markts überlassen werden darf. Gerade diese Überzeugung beseelt uns in unserem Aufbau Europas, umgesetzt natürlich im Lichte der Erfordernisse der Globalisierung.

Damit sind die Bedeutung und der Sinn dieses Kampfes um die „ Ausnahme Kultur" umfassend beschrieben, den Frankreich und Europa gemeinsam seit nunmehr über zehn Jahren unermüdlich führen. Geleitet werden wir dabei von der festen Überzeugung, dass die WTO und die in ihrem Rahmen geführten Handelsgespräche nicht der richtige Ort sind, um Fragen des kulturellen Austauschs zu behandeln. Bestens motiviert durch das niemals nachlassende Engagement der Vertreter des Kulturbetriebs, wobei ich besonders die Filmregisseure nennen möchte, ist Frankreich nicht müde geworden, Seite an Seite mit anderen für die Verteidigung dieses Prinzips zu kämpfen. Es ist ein sehr harter Kampf, in dem wir nicht nachlassen dürfen, denn es geht um ganz erhebliche, wirtschaftliche Einsätze. Aber es geht eben auch um unser Bild vom Menschen: die „exception culturelle" ist nämlich ein politisches und moralisch-ethisches Postulat von allergrößtem Gewicht. Sie bedeutet die Aussage, dass es im Handeln und Schaffen des Menschen Bereiche gibt, die sich einfach nicht auf ihre Dimension als Ware reduzieren lassen.

Dank der Verfassung für Europa wird dieses Prinzip einer Sonderbehandlung für die Kultur, das uns allen so sehr am Herzen liegt, nun endgültig verankert. Im Wege einer Abweichung von der allgemein gültigen Regel wird im Verfassungsvertrag nämlich die Einstimmigkeit der Staaten vorgeschrieben, sofern es darum geht, Handels- und Wirtschaftsabkommen über kulturelle Leistungen und Hörfunk- sowie Fernsehproduktionen auszuhandeln und abzuschließen. Weder die Union noch Frankreich werden in ihrer Vertretung der „exception culturelle" jemals nachgeben. Vielmehr werden sie auch in Zukunft die anspruchsvollste Interpretation dieses Konzepts hoch halten.

Dieser selbe Ehrgeiz sollte im Übrigen auch den Antrieb für diejenigen Arbeiten darstellen, die gegenwärtig im Rahmen der UNESCO im Hinblick auf die Abfassung einer internationalen Konvention über die kulturelle Vielfalt geleistet werden. Die Anregung dazu habe ich anlässlich des Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung im September 2002 in Johannesburg in den Raum gestellt. Inzwischen kommt das Projekt gut voran, insbesondere dank des Engagements aller Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und der Internationalen Organisation für die Frankophonie. Auf Ersuchen Frankreichs, wobei wir durch mehrere unserer Partner unterstützt wurden, hat auch die Kommission sich nachdrücklich engagiert. All dies belegt deutlich den Konsens, den wir in dieser wichtigen Frage in der Union herbeiführen konnten. Allerdings sind wir noch nicht am Ziel. Europa wird seine Geschlossenheit bewahren müssen, wenn wir unsere Auffassungen durchsetzen wollen.

In der Konvention wird es darum gehen müssen, die spezifische Besonderheit von Kulturgütern zu besiegeln. Die Legitimität eines politischen Wirkens zugunsten der kulturellen Vielfalt wird in ihr zu konsolidieren sein. Und die Konvention wird für Staaten und internationale Organisationen einen Bezugsrahmen schaffen müssen. All dies sind bedeutende Schritte nach vorn. Frankreich wird sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, damit die Konvention schon im kommenden Herbst unterzeichnet werden kann. Und wir rechnen mit der Huterstützung aller, um dies zu schaffen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Wir sind in der heutigen Zeit aufgerufen, uns den Herausforderungen einer immer komplexeren Welt zu stellen, einer oftmals verwirrenden, einer durch immer neue Erschütterungen aus den Fugen geratenden Welt. Einer Welt, in der sich durch den Fortschritt der Technik ständig neue Horizonte auftun. Einer Welt, in der gerade durch drohende Nivellierung und Vereinheitlichung neue Identitäten zum Leben erweckt werden, in der die einzelnen Kulturen und Zivilisationen sich im Dialog bekräftigen müssen, um der Versuchung der Konfrontation zu entgehen. Einer Welt, die in der eigenen Vielfalt den Antrieb für ihre Einheit finden muss. Einer Welt, die dabei ist, ihre Strukturen nach einer Reihe von Achsen neu auszurichten. Es entspricht der Mission Europas, eine der herausragenden Achsen in der Welt darzustellen.

Voraussetzung hierfür ist natürlich, dass Europa seine Stellung als eine der wirtschaftlichen Großmächte konsolidiert. Aber auch als politische Macht muss Europa auf den Plan treten. Und um seine Stellung voll zu bewahren, muss es eines dieser „Imperien des Geistes" bleiben, die Winston Churchill als die Imperien der Zukunft bezeichnet hat.

Um all dies geht es bei unserem Europa der Kultur. Dies ist das Thema der vor uns liegenden Tage, während derer Sie das Wort erhalten sollen. Sie sind aufgerufen, anzuknüpfen an diese lange Kette von Dichtern, Malern, Schriftstellern, Musikern, Bildhauern, Regisseuren und Denkern, die am Faden unserer gemeinsamen Identität spinnen.

Es liegt bei Ihnen, Austausch und Dialog, die Vielfalt der Meinungen und Gedanken zum Leben zu erwecken, damit die lebendige Wirklichkeit unseres Europas der Kultur Gestalt annimmt, damit sie sichtbar, fühlbar, hörbar wird. Ihr Besuch in Paris ist für mich Symbol für einen großen Ehrgeiz. Für eine weittragende Hoffnung, für eine feste Überzeugung:
Für unser gemeinsames, gemeinsam gelebtes Schicksal in Europa.

Ich danke Ihnen sehr.





Andere Standorte