"Eine gemeinsame Vision" Zwei Tage vor dem 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags spricht Frankreichs Staatspräsident im WELT -Interview über den deutsch-französischen Motor, die Zukunft der Europäischen Union und den Irak-Konflikt

"Eine gemeinsame Vision" Zwei Tage vor dem 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags spricht Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac im WELT -Interview über den deutsch-französischen Motor, die Zukunft der Europäischen Union und den Irak-Konflikt

22 januar 2003

DIE WELT: Herr Präsident, was bedeuten für Sie persönlich die deutsch-französischen Beziehungen, wie sehen Sie die Deutschen?

Jacques Chirac: Die deutsch-französischen Beziehungen haben einen privilegierten Charakter. Ich würde sagen, unsere Zusammenarbeit hat eine einzigartige und beispiellose Qualität erreicht. Seit Ende des Krieges vermochten unsere beiden Länder ihrer gemeinsamen historischen Verantwortung im europäischen Aufbauwerk gerecht zu werden. Dies verdanken wir Männern, die wie Bundeskanzler Adenauer und General de Gaulle Weitsicht bewiesen und die anfänglichen Impulse verliehen. In meinen Augen sind die Deutschen ein großes Volk, dessen Seele und Intelligenz und dessen Kultur seit jeher einen wesentlichen Beitrag zu unserer Zivilisation geleistet haben. Am meisten beeindruckt hat mich seit Ende des Krieges zweifelsohne Konrad Adenauer, dem Europa viel zu verdanken hat.

DIE WELT: Inwiefern kommt den Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern eine besondere Bedeutung zu, und welche Prioritäten setzen Sie diesbezüglich für die kommenden Jahre?

Jacques Chirac: Insofern, als sie zwei Länder, die als „Erbfeinde“ angesehen wurden, zu Partnern machten, die in sämtlichen Bereichen eine einzigartige und beispiellose Zusammenarbeit aufzubauen vermochten. Gestärkt werden diese Beziehungen überdies durch die Bürger, insbesondere die Jugendlichen, die durch ihr Engagement zur Vertiefung des Dialogs zwischen beiden Gesellschaften beitragen. Zum Beispiel darf man nicht vergessen, dass bislang sieben Millionen junge Deutsche und Franzosen an den Austauschprogrammen des Deutsch-Französischen Jugendwerks teilgenommen haben. Unser Ziel muss es heute sein, darauf hinzuwirken, dass unsere Länder gemeinsam eine neue Etappe im Dienste der Vertiefung des europäischen Einigungswerks zurücklegen. Zu einer Zeit, in der die Union sich erweitert und sich anschickt, eine Verfassung auszuarbeiten, bin ich mehr denn je überzeugt, dass der deutsch-französische Motor unverzichtbar ist. Er wird es ermöglichen, das wir alle gemeinsam neue, entscheidende Etappen zurücklegen werden. Dies ist das ehrgeizige Ziel, das die feierliche Erklärung, die wir übermorgen anlässlich des 40. Jahrestags der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags annehmen werden, der deutsch-französischen Zusammenarbeit setzt.

DIE WELT: Es wurde behauptet, der deutsch-französische Motor stottere. Wer ist daran schuld, die Deutschen oder die Franzosen?

Jacques Chirac: Diese Ansicht habe ich nie geteilt. Fest steht, dass Europa nur vorankommt, wenn der deutsch-französische Motor funktioniert. Wenn der Motor stillsteht, tritt Europa auf der Stelle. Die Ergebnisse des Europäischen Rates von Kopenhagen wie auch die Debatten des Konvents über die Zukunft der Union haben gezeigt, dass der deutsch-französische Motor auf vollen Touren läuft. Wie der Bundeskanzler und ich auf dem Schweriner Gipfel am 30. Juli letzten Jahres angekündigt hatten, haben wir für den Abschluss der Beitrittsverhandlungen die notwendigen Lösungen gefunden und dem Konvent mehrere gemeinsame Vorschläge zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik, zu Fragen im Bereich Justiz und Inneres sowie zur Economic Governance unterbreitet. Und gleich nach unserem gemeinsamen Abendessen letzte Woche im Elysée-Palast haben wir dem Konvent einen neuen Beitrag zu einem für unsere Zukunft entscheidenden Thema, nämlich der institutionellen Architektur Europas, vorgelegt.

DIE WELT: Unter allen deutsch-französischen Tandems scheint dasjenige Chirac/Schröder eher einer Vernunftehe zu gleichen, wenn man es mit den Symbolen der Ära de Gaulle/Adenauer oder mit dem Bild von François Mitterrand und Helmut Kohl in Verdun vergleicht. Was meinen Sie dazu?

Jacques Chirac : Es ist eine Besonderheit und eine Stärke der deutsch-französischen Beziehungen, dass sie durch ihre höchsten Verantwortlichen verkörpert werden. Diese Personifizierung der Beziehungen ermöglicht einen fruchtbaren und lebendigen Dialog. General de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer haben den Weg geebnet. Männer wie Georges Pompidou und Willy Brandt, Valéry Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt, François Mitterrand und Helmut Kohl sind ihrem Beispiel gefolgt. Und der Bundeskanzler und ich sind genauso entschlossen, diese gemeinsame Verantwortung wahrzunehmen und Europa voranzubringen.

DIE WELT: Apropos Einigung, die Sie mit dem Bundeskanzler am letzten Dienstag erzielten: Befürchten Sie nicht, dass sie zu einer Rivalität zwischen dem Chef der Kommission und dem Chef des Europäischen Rates führen wird?

Jacques Chirac : In der Europäischen Union gibt es von jeher einen Europäischen Rat und eine Kommission. Und dies funktioniert sehr gut. Es kam nie zu einem Konflikt zwischen dem Rat und der Kommission, die beide über ihren eigenen Zuständigkeitsbereich verfügen. Das Problem ist, dass mit der Erweiterung vieles komplexer wird. Deshalb ist es wichtig, dass die Befugnisse eines jeden Präsidenten in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich gestärkt werden. Nicht im Verhältnis zueinander, da dies zu Konflikten führen könnte, sondern hinsichtlich ihrer Handlungsmöglichkeiten. Wir haben dann einen Präsidenten des Rates, der über umfassendere Befugnisse verfügen wird und sich somit effizienter seinen Aufgaben widmen kann, sowie einen Präsidenten der Kommission, der ebenfalls über umfassendere Befugnisse verfügen wird, da er vom Parlament gewählt wird, und der sich seinen Aufgaben widmen kann. Dies entspricht dem Geiste unserer Institutionen, weshalb ich mir keinerlei Sorgen mache. Zwischen beiden Institutionen gibt es keine Rivalität. Wir werden lediglich die Mittel beider Institutionen modernisieren und stärken, damit sie gut funktionieren.

DIE WELT: Kann man somit sagen, dass der deutsch-französische Motor wieder angesprungen ist?

Jacques Chirac: Ja, in der Tat. Dies beweist die Einigung über die gemeinsame Agrarpolitik; es war dies eine schwierige Einigung, bei der beide Länder dem anderen gegenüber erhebliche Zugeständnisse machen mussten. Auch die am Dienstag erzielte Einigung über die Institutionen beweist es. Zumal, wie Sie wissen, Deutschland und Frankreich in Sachen Integration und institutionelles Gleichgewicht zwischen Parlament, Kommission und Rat traditionell unterschiedlicher Auffassungen waren. Deshalb wäre eigentlich zu erwarten gewesen, dass wir völlig unterschiedliche Standpunkte vertreten. Aber der Wille, sich auf eine gemeinsame Position zu verständigen, triumphierte. Auch hier mussten beide Seiten aufeinander zugehen. Es gibt zwei Arten von Einigungen: die wirklichen, diejenigen, bei denen jeder dem anderen ein Opfer bringen muss, sowie die falschen Einigungen, diejenigen, bei denen jeder durch einen Trick Differenzen zu verschleiern versucht.

DIE WELT: Und welches Zugeständnis haben Sie gemacht?

Jacques Chirac: Dass der Präsident der Kommission vom Parlament gewählt wird. Dies war ein Zugeständnis, das Frankreich bislang zu machen nicht gewillt war. Und Deutschland machte ein Zugeständnis, indem es akzeptierte, dass der Präsident des Europäischen Rates vom Rat mit qualifizierter Mehrheit für eine recht lange Dauer gewählt wird. Gemessen an unseren Überzeugungen und Traditionen, haben beide Länder dem anderen gegenüber ein großes Zugeständnis gemacht. Eine wirkliche Einigung, da sie auf Opfern basiert.

DIE WELT: Fürchten Sie nicht, dass die anderen Partner Ihnen vorwerfen, ihnen Ihre Meinung aufzwingen zu wollen?

Jacques Chirac: Die deutsch-französische Einigung ist ein Beitrag zum Konvent. Wir streben keinerlei Hegemonie an und werden selbstverständlich niemandem unseren Standpunkt aufzwingen. Wir haben einen gemeinsamen Beitrag zum Konvent geleistet. Ich bin überzeugt, dass fast alle Länder der Union vor Erleichterung seufzten, als sie erfuhren, dass es zu keiner Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich kommen wird. Diese Einigung ist ausgewogen und dürfte praktisch von allen mitgetragen werden. Allerdings möchte ich noch einmal betonen: Wir zwingen niemandem etwas auf, wir haben lediglich einen Beitrag zum Konvent geleistet.

DIE WELT: Der Beitritt der Türkei ist ein heftig umstrittenes Thema in Deutschland. Glauben Sie, dass eine Volksabstimmung diese Frage zu lösen vermag?

Jacques Chirac: Diese Frage halte ich für verfrüht. Wie Sie wissen, haben wir mit der Türkei noch keine Beitrittsverhandlungen aufgenommen. In Kopenhagen haben wir beschlossen, im Dezember 2004 zu prüfen, ob die Türkei zu diesem Zeitpunkt die politischen Voraussetzungen für einen solchen Prozess erfüllt oder nicht. Somit wird sich die Frage erst in vielen Jahren stellen.

DIE WELT: Können unsere beiden Länder in der Irak-Frage eine gemeinsame Position vertreten, zumal die deutsche Regierung im Gegensatz zu Frankreich eine militärische Unterstützung ausgeschlossen hat?

Jacques Chirac: Bei dieser Frage haben wir eine gemeinsame Vision und verfolgen einen gemeinsamen Ansatz. Deutschland und Frankreich ist gleichermaßen daran gelegen, dass das irakische Problem in einem multilateralen Rahmen unter Beachtung des Völkerrechts behandelt wird und dass der Irak gemäß dem in der Resolution 1441 festgelegten Prozess entwaffnet wird. Folglich legen wir großen Wert darauf, uns in der Irak-Frage auch weiterhin eng mit Deutschland abzustimmen, das unmittelbar nach Frankreich den UN-Vorsitz im Sicherheitsrat im Februar übernimmt.

DIE WELT: Sie haben kürzlich erklärt, die französischen Militärs müssten auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Es war zu lesen, 15 000 französische Soldaten könnten zum Einsatz kommen. Trifft dies zu?

Jacques Chirac: Die internationale Gemeinschaft darf nur als allerletztes Mittel und nach Ausschöpfung aller anderen Optionen auf eine militärische Intervention zurückgreifen, und hierzu bedarf es eines ausdrücklichen Beschlusses des Sicherheitsrates, der sich auf einen Bericht der Waffeninspekteure stützen muss. Auf alle Fälle wird Frankreich seine uneingeschränkte Urteilsfreiheit bewahren.

DIE WELT: Es wird beklagt, dass das Interesse an der jeweiligen Nachbarsprache nachlässt. Wie kann dem entgegengewirkt werden? Würden Sie Ihrem Enkelkindern raten, Deutsch zu lernen?

Jacques Chirac: Mit dieser Situation kann man in der Tat nicht zufrieden sein, und wir müssen alles tun, um dem entgegenzuwirken. Selbstverständlich kann man die Realität nicht leugnen, und die ist das Gewicht der englischen Sprache. Aber die Vielfalt der Sprachen ist ein Reichtum. Deshalb müssen wir vorrangig ein europäisches Bildungsmodell fördern, bei dem die jungen Europäer zusätzlich zu ihrer Muttersprache zwei europäische Fremdsprachen erlernen können. Auf diese Weise werden die deutsche und die französische Sprache an Bedeutung gewinnen, da ein junger Deutscher oder ein junger Franzose, der beide Sprachen beherrscht, auf dem Arbeitsmarkt einen unvergleichlichen Vorteil hat. Was mein Enkelkind anbelangt, so werde ich ihm natürlich zu gegebener Zeit erklären, wie wichtig es ist, Deutsch zu lernen.

DIE WELT: Zum Abschluss: Welche Botschaft richten Sie anlässlich dieses 40. Jahrestags der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags an die deutsche Jugend?

Jacques Chirac: Die Botschaft, die ich an die deutsche wie auch an die französische Jugend richte, ist eine Botschaft des Enthusiasmus, wobei ich betonen möchte, dass sie Glück hat, in einem befriedeten Kontinent zu leben. Es ist dies auch eine Botschaft der Öffnung: Öffnung gegenüber dem anderen, Öffnung gegenüber der Welt, gegenüber allen ihren Reichtümern, gegenüber der Vielfalt der Kulturen. Eine Botschaft der Mobilisierung, damit sie unsere humanistischen Werte in die Welt trägt, sie sich für die Bewältigung der Herausforderungen, die unseren Planeten bedrohen, einsetzt. Dies ist ein Appell an das Herz und an das Engagement der jungen Deutschen und jungen Franzosen, damit sie mit gutem Beispiel vorangehen.

Mit dem französischen Staatspräsidenten sprachen Miriam Hollstein und Elisabeth Ruge. {/i}





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