Neujahrsansprache an die sozialpartner und vertreter der gesellschaftlichen organisationen - Auszuege -

Neujahrsansprache von Staatspraesident Jacques CHIRAC an die sozialpartner und vertreter der gesellschaftlichen organisationen - Auszuege -

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Paris, 4. Januar 2007


(...) Die Weltwirtschaft expandiert kräftig und neue Rivalen tauchen auf: heute China und Indien, morgen Brasilien. Wir befinden uns in einem Wettlauf um die technologische Führerschaft, in einem Wettbewerb, der alle Sektoren betrifft: Hinter all den bewundernswerten Erfolgen unserer Unternehmen und auch hinter der Schließung und Verlagerung von Unternehmen steckt diese Tatsache.

Der Wettlauf nach der kritischen Größe und nach Profit schlägt sich auch in immer häufigeren Übernahmeangeboten nieder. Das sind gute Gelegenheiten und neue Gefahren zugleich: Frankreich mit 11 Unternehmen unter den 100 größten weltweit ist hier unmittelbar betroffen. Wir müssen zwar die Regeln der Marktwirtschaft einhalten, dürfen aber nicht zu gutmütig sein.

Gleichzeitig steht die Menschheit vor einer absehbaren ökologischen Katastrophe. Wir müssen radikale Maßnahmen ergreifen, um gleichzeitig auf die Klimaerwärmung und auf den Wachstumsbedarf einer Welt zu reagieren, die in 40 Jahren 3 Milliarden Einwohner mehr zählen wird. Eine neue industrielle Revolution steht uns also wirklich bevor.

Angesichts dieser Herausforderungen müssen wir uns vor Ideologien und Illusionen hüten, wie etwa der Reduzierung der Arbeitszeit als Lösung für die Arbeitslosigkeit oder Steuererhöhungen statt Reformen. Genauso muss der Weg eines zu liberalen Frankreich, hin zu einer Senkung der Löhne und zum Rückgang des sozialen Schutzes gemieden werden. Frankreich hat das Potential zur Realisierung seiner Ambitionen.

Genau genommen stehen wir vor drei Herausforderungen: die Vollendung eines neuen Sozialmodells, die Mitarbeiterbeteiligung zu einem echten Gesellschaftsprojekt zu machen und das Land an die Spitze der nächsten industriellen Revolution, der Revolution der nachhaltigen Entwicklung, zu stellen.

Es wird viel über ein französisches Modell gesprochen – zu Recht. Es beruht auf der Verbindung von sozialem Schutz und Innovation. Es ist perfekt angepasst an die heutige Welt, vorausgesetzt man wendet es konsequent an und modernisiert es ständig.

Deswegen haben wir mit der tiefgreifenden Modernisierung unserer Sozialversicherung begonnen. Das Rentensystem wurde reformiert. Durch diese Reform wird das Gleichgewicht von Ausgaben und Einnahmen der Renten bis 2020 garantiert. 500.000 Frauen und Männer, die schon früh zu arbeiten begonnen haben, werden vor ihrem 60. Lebensjahr in Rente gehen können. Die Reform der Krankenversicherung wurde erfolgreich beendet: Zum ersten Mal werden die Ausgaben dank der Verhaltensänderung und dank eines echten Versorgungskreislaufes eingegrenzt. 2009 wird das Gesundheitssystem Überschüsse verbuchen können. Wir haben auch unser Sozialmodell weitergebracht: Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs wurde eine neue Säule für ältere, pflegebedürftige Menschen und Behinderte geschaffen. Und wir machen Schritte in Richtung des einklagbaren Rechts auf Wohnraum.

Bei der Beschäftigung haben wir noch sehr viel Arbeit vor uns. Und hier herrscht für mich absolute Priorität. Dank Ihres Einsatzes, dank des entschlossenen Handelns der Regierung von Dominique de Villepin geht die Arbeitslosigkeit zurück. 360.000 Arbeitslose weniger. Wenn es so weitergeht, haben wir bis Ende des Jahres die niedrigsten Arbeitslosenzahlen seit einem Vierteljahrhundert. Aber das einzig wirklich wichtige Ziel ist natürlich die Vollbeschäftigung. Und dafür müssen wir uns auf bedeutende Reformen einrichten, die wir nur gemeinsam durchführen können.

Die Voraussetzung für Vollbeschäftigung ist ein neues Gleichgewicht. Unser Arbeitsrecht ist zu komplex und unflexibel für eine Wirtschaft, die voller Möglichkeiten und technologischer Innovationen ist und Konjunkturschwankungen unterliegt. Unsere Firmen kämpfen nicht mit den gleichen Waffen, vor allem nicht die kleinen Betriebe mit unter 50 Angestellten. Dort entstehen die meisten potentiellen Arbeitsplätze, dort stößt man auf die größten Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Arbeitsrechts. Diesen Unternehmen muss durch mehr Flexibilität erlaubt werden, sich zu vergrößern.

Gleichzeitig müssen wir ein System der Arbeitssicherung einführen, was hiermit zusammenhängt. Im Falle einer Arbeitslosigkeit reicht es nicht aus, Ersatzleistungen zu beziehen; es gilt, seine Kompetenzen ständig zu aktualisieren und unverzüglich mit dem richtigen Unternehmen in Kontakt zu treten. Die Einrichtung der so genannten Jobcenter war eine wichtige Etappe. (...) Die Zusammenlegung der Arbeitsagenturen ANPE und der Leistungsstellen UNEDIC ist ein neues Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.

Das Arbeitssicherungssystem wird vier Aufgaben haben: die Zahlung von Arbeitslosengeld, die persönliche Betreuung bei der Suche nach Beschäftigung, die Hilfe zu beruflicher Mobilität und das lebenslange Lernen. Jeder Arbeitnehmer muss ein Recht auf Weiterbildung haben, besonders diejenigen mit einem niedrigen Bildungsstand und die eine Umschulung benötigen. Im Sinne des so genannten Übergangsvertrages wird eine vertragliche Bindung mit Rechten und Pflichten zwischen beschäftigungslosen Arbeitnehmern und dem System zur Arbeitssicherung bestehen. Durch die Reform des sozialen Dialogs wird es die Pflicht der Sozialpartner an der Seite des Staates sein, dieses neue System zu verwalten.

Hinter dem Thema Beschäftigung verbirgt sich natürlich das Thema Kaufkraft. Der gesetzliche Mindestlohn SMIC ist um fast 25% gestiegen, die Beschäftigungsprämie hat sich verdoppelt. Aber die Erwartungen der Franzosen sind hoch. Um die Löhne zu erhöhen, muss die Arbeitslosigkeit gesenkt werden. Es muss weiterhin gegen Kartelle und Monopole vorgegangen werden, die den Verbrauchern schaden. Mehr Wohnraum muss entstehen, denn das mangelnde Angebot ist verantwortlich für die steigenden Mieten.

Neben den Gehältern und Preisen können wir die Mitarbeiterbeteiligung zu einem weiteren Antrieb der Kaufkraft machen. Die Mitarbeiterbeteiligung ist eine Eigenheit des französischen Modells: Weit mehr als ein wirtschaftliches Projekt ist es ein gesellschaftliches Projekt, das der heutigen Welt entspricht.

Die Mitarbeiterbeteiligung ist eine Frage der Gerechtigkeit: Die Arbeitnehmer müssen zum Teil von den Gewinnen profitieren, zu denen sie mit ihrer Arbeit beigetragen haben. Hüten wir uns vor falschen Debatten: Die Mitarbeiterbeteiligung ersetzt nicht die Gehälter, sie ist eine zusätzliche Einnahmequelle. Sie ist ebenso ein fantastisches Instrument des Zusammenhalts zwischen dem Arbeitnehmer und seinem Unternehmen. Sie besiegelt eine echte Bindung mit ihm für ein gemeinsames Ziel. Die Mitarbeiterbeteiligung und vermögenswirksame Leistungen sind bedeutende Instrumente, um die Stabilität unserer großen Unternehmen zu gewährleisten: Da ihr Kapital zu über 40% im Besitz ausländischer Fonds ist, federn diese das Risiko feindlicher Übernahmen ab.

Zur Errichtung der Gesellschaft der Mitarbeiterbeteiligung müssen wir uns auf das Gesetz stützen, das kürzlich verabschiedet wurde und ihre Entwicklung radikal beschleunigen. Zusammen mit den Sozialpartnern müssen wir uns das Ziel setzen, dass jeder Arbeitnehmer – und nicht wie derzeit jeder Zweite – ein Recht auf Mitarbeiterbeteiligung hat. Ferner sollten die Unternehmen, die ihren Angestellten – in Form von Mitarbeiterbeteiligungen oder Lohnerhöhungen – ebensoviel wie ihren Aktionären geben, weniger Körperschaftssteuer zahlen, nämlich nur 10%. Und wenn ein Investitionsfonds beschließt, ein Unternehmen zu verkaufen, so sollte ihm auferlegt werden, den Angestellten einen Anteil des erzielten Mehrwerts, beispielsweise 20%, auszuzahlen.

Im gleichen Sinne muss der Kauf von Unternehmen durch Arbeitnehmer durch Steueranreize, durch eine günstigere Regelung und durch die Einrichtung eines Interventionsfonds der Depositenkasse, um an der Seite der Arbeitnehmer zu investieren, vereinfacht werden.

Der dritte Bereich, in dem wir entscheidende Etappen beschreiten müssen, ist die Innovation, insbesondere die für unsere Zukunft strategisch wichtige nachhaltige Entwicklung.

Wir haben uns wie nie zuvor für die öffentliche und private Forschung engagiert. Durch die Schaffung von Stellen lehrbeauftragter Forscher, durch die Einrichtung von Forschungs- und Hochschulbildungszentren und themenbezogener Forschungsnetze haben wir die Bedingungen geschaffen, um die französischen Hochschulen auf den besten internationalen Standard zu bringen. Wir müssen dies zu einer Priorität des Haushalts für die kommenden fünf Jahre machen und damit unseren Studenten ebensoviel finanzielle Mittel widmen, wie es die anderen großen Länder tun, also 30% mehr als bisher.

Wir werden den Studenten die besten Bedingungen für ihre Arbeit bieten. Wir werden die Universitäten mächtiger machen und ihre Annäherung untereinander sowie ihre Zusammenarbeit bei Projekten mit internationalem Ausmaß fördern.

Um Arbeit und Innovationsgeist besser zu belohnen, haben wir die Besteuerungsobergrenze eingeführt und die Einkommenssteuer in fünf Jahren um 20% gesenkt, für über 3,5 Millionen Haushalte sogar um 30%. Aber die größte Herausforderung der kommenden Jahre ist die Steuerkonkurrenz der Länder untereinander. Um unsere Unternehmen im Land zu halten und andere anzuziehen, müssen wir bei der Körperschaftssteuer aktiv werden. Sie liegt in Frankreich bei 33% - fast acht Prozentpunkte über dem europäischen Durchschnitt. Unser Ziel muss es sein, sie innerhalb von fünf Jahren auf 20% zu senken.

Aber vor allem müssen wir nun die Wende der „neuen neuen Ökonomie", der nachhaltigen Entwicklung, schaffen. Die Antwort auf die ökologische Herausforderung ist nicht Nullwachstum. In einer Welt, in der drei Milliarden Menschen mit weniger als zwei Euro am Tag leben, ist diese Idee, die manch einer bisweilen hervorbringt, schlichtweg unverschämt. Wir müssen vielmehr für ein neues, umweltfreundliches Wachstum sorgen. Es entsteht durch eine Revolution unserer Produktionsverfahren und Konsummuster: Einsparungen bei den natürlichen Rohstoffen, Achtung der natürlichen Umgebung und Wachsamkeit bei Verschmutzung und Müllproduktion und bei den Folgen chemischer Produkte auf die Gesundheit des Menschen. Es entsteht durch bedeutende technologische Veränderungen. Mit seiner Forschung, mit seinen Spitzenunternehmen bei der Wasserwirtschaft, der Abfallentsorgung und der Energie kann Frankreich der Star dieser neuen Industrierevolution sein.

Energie ist natürlich ein strategisches Thema. Um unseren Platz auf dem Weltmarkt zu halten und zu behaupten, müssen wir über mächtige Konzerne verfügen. Da sind Total, EDF, Areva beim Erdöl, bei der Elektrizität und bei der Atomkraft. Wir brauchen einen Hauptakteur in Sachen Gas. Insofern ist die geplante Fusion von Gaz de France und Suez ein strategisches Projekt für Frankreich und Europa. Kurzsichtige Berechnungen oder politische Erwägungen haben in einer solchen Perspektive keinen Platz.

Ferner stellt sich die strategische Frage nach sauberen Energieformen. Im Zuge der Klimaerwärmung werden wir vielleicht dazu verpflichtet sein, auf die Nutzung von Erdöl zu verzichten, bevor es zur Neige geht. Es ist sehr wichtig, Energien ohne Treibhausgase zu entwickeln - Biokraftstoffe, die unserer Landwirtschaft und unseren Wäldern immense Perspektiven bieten. Wir müssen den Atomsektor stärken: Mit dem Druckwasserreaktor wird EDF seine Energieanlagen erneuern. Das Atomenergiekommissariat wird in diesem Jahr mit der Entwicklung eines Reaktors der vierten Generation beginnen. In diesen Rahmen muss auch das ITER-Projekt gestellt werden. Wegen der guten Qualität unserer Forschung und unserer Forscher hat die Staatengemeinschaft Frankreich als Standort für dieses Energieprogramm der Zukunft – einer sauberen und nahezu unerschöpflichen Energieform – ausgewählt.

Wir müssen – insbesondere mit dem Impuls der Agentur für industrielle Innovation – große Projekte mit bahnbrechenden technologischen Neuerungen starten. Ich denke hier an den Bau innerhalb eines Jahres eines Prototyps für die Aufnahme und Speicherung von Kohlendioxid. Ich denke an die Entwicklung von Isoliermaterial und an energiesparende Bauweisen. Ich denke an so genannte saubere PKWs und LKWs, an Solarenergie, deren Potential beachtlich sein wird, sobald der technologische Durchbruch die Kostenreduzierung ermöglicht.

Schließlich müssen wir ein umfangreiches Programm zur Renovierung des gesamten Immobilenbestands und der alten Gebäude starten: Sie stellen eine riesige Quelle der Energieeinsparung dar. Das Ziel ist, in 20 Jahren den Energieverbrauch unserer Immobilien zu reduzieren und durch Regelungen, Sensibilisierung oder durch Anreize Energieeinsparung und saubere Energieformen zu fördern. In Sachen Transport müssen wir dem Schienenverkehr und der Binnenschifffahrt Priorität einräumen und den Gebietskörperschaften, die es möchten, ermöglichen, nach öffentlichen Debatten Straßennutzungsgebühren in städtischen Gebieten einzuführen.

Schutz der Umwelt, Einsatz für biologische Vielfalt, Bekämpfung der Klimaveränderung – dies sind lebenswichtige Forderungen für unsere Länder heute. Frankreich war das erste Land, das eine Umweltcharta in seine Verfassung aufgenommen hat. In Europa werden wir auf eine Kohlenstoffbesteuerung von Produkten aus Herkunftsländern hinwirken, die sich weigern, sich für das nach 2012 auf das Kyotoprotokoll folgende Regime einzusetzen. Deswegen will ich Anfang Februar eine internationale Konferenz in Paris organisieren, um das Umweltbewusstsein und die unumgängliche Einrichtung einer UN-Umweltorganisation zu beschleunigen.

Meine Damen und Herren,

(...) Das wirtschaftliche Europa muss mit dem Europa der Bürger Hand in Hand gehen. Die Europäische Union darf nicht mehr der einzige Zusammenschluss von Ländern eines Kontinents sein, der keines der Instrumente für Wirtschafts-, Industrie-, Handels- oder Währungspolitik nutzt. Es wird Zeit, dass sie wirtschaftlich souverän wird, eine Wechselpolitik festlegt und eine Neudefinition der Regeln der Konkurrenz einsetzt, um der Globalisierung gerecht zu werden. Es ist Zeit für die Europäische Union, eine offensive Handelspolitik mit den gleichen Mitteln wie die anderen Mächte zu verabschieden. Als erster Handelspartner der Schwellenländer befindet sich die Europäische Union in einer starken Position, um mit ihnen Abkommen über die Bedingungen einer loyalen Konkurrenz und die Einhaltung sozialer und ökologischer Normen auszuhandeln. Europa muss sein wirtschaftliches Schicksal wieder in die Hand nehmen und der Gemeinschaftspräferenz, auf der es aufbaut, wieder ihre ganze Bedeutung geben.

Dies wird ein bedeutender Wendepunkt des europäischen Aufbauwerkes sein. In einer Welt, in der die Bekräftigung der wirtschaftlichen und sozialen Macht unseres Kontinents unerlässlich für das Gleichgewicht in der Welt ist, muss Frankreich eine Motorrolle spielen./.





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