Rede von Staatspräsident Jacques Chirac vor den strategischen Luft- und Seestreitkräften.

Rede von Staatspräsident Jacques Chirac vor den strategischen Luft- und Seestreitkräften in L'Ile Longue (Auszüge)

Brest, 19. Januar 2006


(...) Mit dem Ende des Kalten Krieges sind wir derzeit keiner direkten Bedrohung durch eine bedeutende Macht ausgesetzt, das ist richtig.

Aber das Ende der bipolaren Welt ließ die Bedrohungen für den Frieden nicht verschwinden. In zahlreichen Ländern werden radikale Ideen verbreitet, welche die Konfrontation der Zivilisationen, der Kulturen und der Religionen verkünden. Heute kommt dieser Wunsch nach Konfrontation durch abscheuliche Attentate zum Ausdruck, die uns in regelmäßigen Abständen daran erinnern, dass Fanatismus und Intoleranz alle möglichen Verrücktheiten auslösen können. Morgen schon könnten sie andere Formen annehmen und vielleicht auch andere Länder mit einbeziehen.

Die Bekämpfung des Terrorismus ist eine unserer Prioritäten. Wir haben eine Reihe von Maßnahmen und Verfügungen getroffen, um auf diese Gefahr zu antworten. Wir werden auf diesem Weg mit Entschlossenheit weitergehen. Aber wir dürfen nicht der Versuchung nachgeben, die ganze Verteidigungs- und Sicherheitsproblematik auf diesen notwendigen Kampf gegen den Terrorismus zu beschränken. Nicht weil eine neue Bedrohung auftaucht, verschwinden alle anderen.

Unsere Welt ist in ständiger Entwicklung begriffen, ist auf der Suche nach neuen politischen, wirtschaftlichen, demografischen und militärischen Gleichgewichten. Sie wird charakterisiert durch das schnelle Entstehen neuer Machtzentren. Sie ist konfrontiert mit dem Entstehen neuer Quellen des Ungleichgewichts: die Aufteilung der Rohstoffe, das Verschwinden natürlicher Ressourcen und vor allem die Entwicklung des demografischen Gleichgewichts. Diese Entwicklung könnte ein Grund für Instabilität sein, insbesondere wenn sie mit einer Zunahme von Nationalismen einherginge.

Selbstverständlich sind wir nicht dazu verdammt, die Beziehung zwischen den verschiedenen Machtpolen in naher Zukunft in die Feindseligkeit abgleiten zu sehen. Um dieser Gefahr vorzubeugen müssen wir an einer Weltordnung arbeiten, die auf dem geltenden Recht und auf der Sicherheit für alle, auf einer gerechteren und repräsentativeren Ordnung beruht. Und wir müssen all unsere großen Partner dazu verpflichten, sich für Zusammenarbeit statt Konfrontation zu entscheiden. Aber wir sind weder vor einer unvorhergesehenen Wende des internationalen Systems noch vor einer strategischen Überraschung in Sicherheit. Das lehrt uns unsere gesamte Geschichte.

Unsere Welt ist auch gekennzeichnet durch das Auftauchen von Mächten, die auf dem Besitz atomarer, biologischer oder chemischer Waffen gründen. Daher stammt das Streben einiger Staaten nach nuklearer Macht, was den Abkommen widerspricht. Versuche mit ballistischen Raketen, deren Tragweite ständig zunimmt, werden weltweit mehr. Diese Feststellung hat den UN-Sicherheitsrat dazu geführt, anzuerkennen, dass die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Vektoren eine echte Bedrohung für den Frieden und die internationale Sicherheit darstellt.

Schließlich darf man nicht ignorieren, dass traditionellere Risiken regionaler Instabilität weiterbestehen. Es gibt leider überall in der Welt solche Risiken.

Angesichts der Krisen, die die Welt erschüttern, angesichts der neuen Bedrohungen hat sich Frankreich immer in erster Linie für die Prävention entschieden. Diese bleibt in allen Formen die eigentliche Grundlage unserer Verteidigungspolitik. Die Prävention stützt sich auf das Recht, die Einflussnahme und die Solidarität und kommt so durch das Handeln unserer Diplomatie zum Ausdruck, die ohne Unterlass darum bemüht ist, Krisen zu lösen, die hier oder dort entstehen können. Sie kommt auch über eine große Wahl an unterschiedlichen Strategien aus den Bereichen Verteidigung und Sicherheit zum Ausdruck, in erster Linie über die bereits in Zeiten des Friedens dislozierten Streitkräfte.

Aber es wäre zu gutgläubig, alleine in die Prävention zu vertrauen, um uns zu schützen. Um gehört zu werden, muss man nötigenfalls auch fähig sein, Gewalt anzuwenden. Wir müssen also über eine bedeutende Interventionskapazität außerhalb unserer Grenzen mit konventionellen Mitteln verfügen, um diese Strategie zu unterstützen und zu vervollständigen.

Eine solche Verteidigungspolitik beruht auf der Gewissheit, dass unsere lebensnotwendigen Interessen garantiert werden.

Diese Rolle wird der nuklearen Abschreckung zugedacht, die sich in die direkte Fortsetzung unserer Präventionsstrategie einfügt. Sie ist deren letztes Mittel.

Angesichts der Sorgen der Gegenwart und der Unsicherheiten der Zukunft bleibt die nukleare Abschreckung die grundlegende Garantie für unsere Sicherheit. Sie gibt uns die Macht, egal wo die Bedrohungen herkommen, Herrscher über unser Handeln, unsere Politik, über die Bewahrung unserer demokratischen Werte zu sein.

Gleichzeitig unterstützen wir weiterhin die internationalen Bemühungen um generelle und vollständige Abrüstung und, insbesondere, die Verhandlung um einen Sperrvertrag für die Herstellung von Kernbrennstoffen. Aber wir werden natürlich nur weiter in Richtung Abrüstung gehen können, wenn die Bedingungen unserer globalen Sicherheit erhalten bleiben und wenn der Wunsch nach Fortschritt von allen geteilt wird.

In diesem Sinne hat Frankreich seine nuklearen Mittel zur Abschreckung aufrechterhalten, sie aber gemäß dem Inhalt des Nichtverbreitungsvertrages und prinzipiell auf das absolut Notwendigste reduziert.

Es liegt in der Verantwortung des Staatschefs, permanent die Grenze unserer vitalen Interessen einzuschätzen. Die Unsicherheit dieser Grenze ist untrennbar von der Abschreckungsdoktrin selbst.

Die Integrität unseres Staatsgebiets, der Schutz unserer Bevölkerung, die freie Ausübung unserer Souveränität werden immer den Mittelpunkt unserer vitalen Interessen bilden.Aber sie beschränken sich nicht darauf. Die Wahrnehmung dieser Interessen verändert sich im Rhythmus der Welt, einer Welt, die von der zunehmenden Unabhängigkeit der europäischen Länder und von den Auswirkungen der Globalisierung geprägt ist. Die Garantie unserer strategischen Versorgung oder der Verteidigung verbündeter Länder sind, unter anderem, Interessen, die es zu verteidigen gilt. Es ist die Sache des Staatspräsidenten, das Ausmaß und die potentiellen Folgen eines schwerwiegenden Angriffs, einer Bedrohung oder einer Erpressung hinsichtlich dieser Interessen einzuschätzen. Diese Einschätzung kann gegebenenfalls zu dem Schluss führen, dass unsere vitalen Interessen beeinträchtigt sind.

Die nukleare Abschreckung ist, ich habe es nach dem 11. September 2001 betont, nicht dazu gedacht, fanatische Terroristen abzuschrecken. Vielmehr müssen die Staatschefs, die eventuell auf terroristische Mittel gegen uns zurückgreifen, genau wie diejenigen, die es in Betracht ziehen, Massenvernichtungswaffen zu benutzen, verstehen, dass sie sich einer strengen und angemessenen Reaktion von unserer Seite aussetzen. Diese Reaktion kann konventionell sein. Sie kann aber auch anderer Natur sein.

Seit ihren Anfängen ist die Abschreckung stets an ihr Umfeld und an die Einschätzung der Bedrohung, an die ich soeben erinnert habe, angepasst worden – in Theorie und Praxis. Wir sind in der Lage, einer starken Macht, die Interessen gefährdet, welche wir für vital halten, Schaden jeder Art zuzufügen. Gegen eine regionale Macht haben wir nicht die Wahl zu treffen zwischen Untätigkeit und Vernichtung. Die Flexibilität und Reaktivität unserer strategischen Kräfte würden uns erlauben, unsere Antwort direkt an ihre Machtzentren und an ihre Handlungsfähigkeit anzupassen. Unser nukleares Potential wurde in diesem Sinne ausgerichtet. So wurde zum Beispiel die Anzahl der Atomsprengköpfe bei einigen Raketen unserer U-Boote reduziert.

Aber unser Konzept der Anwendung von Nuklearwaffen bleibt gleich. Es darf auf keinen Fall die Rede davon sein, atomare Mittel zu militärischen Zwecken bei einem Konflikt zu verwenden. In diesem Sinne wird das nukleare Potential bisweilen als „Waffe zum Nichtgebrauch“ qualifiziert. Dies darf jedoch keinesfalls Zweifel an unserer Absicht und unserer Fähigkeit entstehen lassen, unsere Atomwaffen einzusetzen. Die glaubwürdige Drohung ihres Einsatzes lastet pausenlos auf den Staatschefs, die feindliche Absichten uns gegenüber haben. Sie ist notwendig, um diese zur Vernunft zu bewegen, um ihnen bewusst zu machen, welchen Preis ihr Handeln hätte – für sie selbst und für ihre Staaten. Darüber hinaus behalten wir uns selbstverständlich immer das Recht vor, eine letzte Warnung zu benutzen, um unsere Entschlossenheit zu zeigen, unsere vitalen Interessen zu verteidigen.

Also haben sich die Grundsätze unserer Abschreckungsdoktrin nicht verändert. Aber ihre Art, zum Ausdruck zu kommen, hat sich weiterentwickelt und wird sich noch weiterentwickeln, damit wir dem 21. Jahrhundert mit all seinen Herausforderungen begegnen können. (...)

Die Entwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die zunehmende Verkettung der Interessen der Länder der Europäischen Union, die Solidarität, die nun zwischen ihnen besteht, machen aus der atomaren Abschreckung Frankreichs, alleine durch ihre Existenz, ein unumgängliches Element für die Sicherheit des europäischen Kontinents. 1995 hatte Frankreich die ehrgeizige Idee einer abgestimmten Abchreckung hervorgebracht, um eine europäische Reflexion zu diesem Thema anzuregen. Es bleibt meine Überzeugung, dass wir zu gegebener Zeit die Frage nach einer gemeinsamen Verteidigung stellen müssen, welche die bestehenden Abschreckungskräfte im Hinblick auf ein starkes, für seine Sicherheit verantwortliches Europa berücksichtigt. Die EU-Länder haben übrigens begonnen, zusammen über ihre Interessen in Hinblick auf eine gemeinsame Sicherheit nachzudenken. Ich hoffe, dass diese Überlegung noch vertieft wird, das ist eine erste und wichtige Etappe. (...)





Andere Standorte