Gastbeitrag von Herrn Jacques CHIRAC, Präsident der Französischen Republik

Gastbeitrag von Herrn Jacques CHIRAC, Präsident der Französischen Republik.

28. november 2006

"Nato-Gipfel in Riga : die transatlantische bindung - eine allianz für den frieden"


Der Frieden ist nie endgültig erreicht, und die höchste Verantwortung jeder Regierung ist die Sicherheit. Deshalb will Frankreich zu einer politischen Weltordnung beitragen, in der Gefahren abgewendet werden. Frankreich ist bereit, zusammen mit anderen Verantwortung im Rahmen starker, legitimer und anerkannter internationaler Institutionen zu übernehmen und dazu aktiv an der Reform der UNO und des Sicherheitsrats mitzuwirken. Mein Land setzt sich ein für eine kontrollierte Globalisierung zum Wohle des Menschen, die in einem harmonischen, gerechten und solidarischen Umfeld erfolgt. Unser Ziel ist ein politisches Europa, das in der Lage ist, seine internationale Verantwortung zur Sicherung des Friedens zu übernehmen.

Das Atlantische Bündnis nimmt in diesem Zusammenhang einen zentralen Platz ein. Seit zehn Jahren arbeitet Frankreich daran mit, das Bündnis an die neuen Gegebenheiten anzupassen, wobei seine ursprüngliche Bestimmung bewahrt werden soll. Daher werde ich auch morgen beim NATO-Gipfel in Riga noch einmal bekräftigen, welch herausragende Rolle das Atlantischen Bündnis spielt - die Militärorganisation, die für die kollektive Sicherheit der Bündnispartner garantiert und in der Europäer und Amerikaner ihre Kräfte im Dienste des Friedens bündeln können.

Die Kriegsgefahr in Europa besteht nicht mehr, und die NATO hat tiefgreifende Neuerungen und Anpassungen erfahren. Sie erstreckt sich jetzt auch auf die neuen Demokratien. Sie baut vertrauensvolle Beziehungen zu Russland auf, die wir beständig stärken müssen, denn den Frieden auf dem europäischen Kontinent zu bewahren heißt an erster Stelle, neue Bruchstellen zu vermeiden. Ebenso wollen wir ein Verhältnis und eine Partnerschaft zwischen der NATO und der Ukraine aufbauen, und wir wünschen uns auch, dass die Allianz die Kandidatenländer des westlichen Balkan aufnimmt, sobald diese dazu bereit sind.

Da wir in einer Zeit voller Versprechungen leben, wollen einige glauben machen, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, die Friedensdividende einzukassieren und unser Engagement zu überdenken. Das wäre meiner Ansicht nach ein grober Fehler. Wenn unsere Bereitschaft nachließe, dann hieße das, zu vergessen, welche Gefahren der Terrorismus und der aggressive Nationalismus darstellen und ebenso die Entschlossenheit einiger Staaten, eine Machtpolitik unter Missachtung ihrer internationalen Verpflichtungen zu betreiben. Heute wie in der Vergangenheit brauchen wir ein starkes, solidarisches und angepasstes Bündnis.

Die oberste Forderung an die NATO ist, dass sie über glaubwürdige militärische Mittel verfügt. Daher der Transformationsprozess, den wir angestoßen haben, um die Effizienz und die Reaktionsfähigkeit zu steigern. In Riga soll die schnelle Eingreiftruppe der NATO für voll einsatzfähig erklärt werden. Somit verfügt die Allianz mit der NRF über ein unübertroffenes multinationales Instrument.

Jeder Mitgliedstaat muss eine geeignete Verteidigungsanstrengung aufbringen. Zu lange haben sich die Europäer auf ihre amerikanischen Bündnispartner verlassen. Sie müssen jetzt ihren Teil der Last übernehmen und einer nationalen Verteidigungsanstrengung zustimmen, die ihren Zielen für die NATO, aber auch für die Europäische Union gerecht wird. Das ist ein Zeichen der Solidarität, durch die beide Ufer des Atlantik miteinander verbunden sind. Ein solches Zeichen setzt auch Frankreich, einer der wichtigsten Beitragszahler und Truppensteller des Bündnisses, mit seinem Gesetz zur militärischen Planung, die auf die permanente Modernisierung seiner strategischen Kräfte nach dem Grundsatz der strikten Hinlänglichkeit sowie der Ausrüstung, der Reaktionsfähigkeit und der Verlegbarkeit seiner konventionellen Kräfte ausgerichtet ist.

Durch die Transformation versetzen wir das Bündnis auch in die Lage, in perfekter Ergänzung und auf gleicher Augenhöhe mit den anderen internationalen Organisationen zu arbeiten, deren Bestimmung, Zuständigkeiten und Mittel im Bereich der Hilfe zum Wiederaufbau, der humanitären Hilfe oder der zivilen Sicherheit klar abgesteckt sind. Die Erfolge der Völkergemeinschaft bei der Konfliktlösung sind das Ergebnis dieser Zusammenarbeit, die keine unnötigen Doppelverwendungen zulässt.

Mit der NATO-Transformation geben wir im Übrigen unserem Handeln einen politischen Rahmen. Frankreich begrüßt in diesem Zusammenhang die Verabschiedung einer umfassenden politischen Richtlinie, in der die politischen Leitlinien für die Anpassung in den nächsten 10 bis 15 Jahren vorgegeben sind.

Dasselbe gilt für die Einsätze des Bündnisses für den Frieden und die Sicherheit in der Welt. Ich denke dabei in erster Linie an Afghanistan. Frankreich ist dort seit 2001 präsent und führt heute die NATO-Truppen in der Region Kabul. Um die Voraussetzungen für einen Erfolg zu schaffen, müssen wir im Rahmen einer umfassenden Strategie und eines verstärkt politischen und wirtschaftlichen Prozesses handeln. Die Einsetzung einer Kontaktgruppe, in der sich die Länder der Region, die wichtigsten beteiligten Länder und die internationalen Organisationen zusammenfinden, wie es im Kosovo der Fall ist, scheint mir erforderlich, damit unsere Streitkräfte ihren Auftrag zur Unterstützung der afghanischen Regierung erfolgreich durchführen können und die NATO sich wieder auf die Führung von Militäreinsätzen konzentrieren kann.

Mit der Transformation stärken wir auch die Fähigkeit des Bündnisses, zusammen mit anderen zu handeln. Ich denke an erster Stelle an die Länder des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrats, mit denen wir unsere Beziehungen in diesem Bereich noch verstärken müssen. Ich denke auch an die anderen Truppensteller, die nicht der NATO angehören, mit denen wir uns aber im Krisenfall abstimmen müssen.

Ein solcher erweiterter Dialog und entsprechende Konsultationen, die von Fall zu Fall geführt werden, dürfen uns jedoch nicht von der eigentlichen Mission der NATO abbringen. Es muss ein konkreter Dialog sein, der auf Situationen bezogen ist, die ein militärisches Eingreifen der NATO oder ihrer Partner erfordern können. Die Vereinten Nationen müssen das einzige politische Forum mit universeller Bestimmung bleiben.

Mit der Transformation berücksichtigen wir nicht zuletzt die neue Realität der Europäischen Union, deren Mitglieder mehrheitlich auch zur NATO gehören. Das Europa der Verteidigung hat seit dem Gipfeltreffen von Saint-Malo mehr Fortschritte gemacht als in den vergangenen 50 Jahren. Ich freue mich, dass die Europäer gemeinsame Waffensysteme entwickeln, wie das Transportflugzeug A 400 M oder den Tiger-Hubschrauber, oder dass wir zusammen mit Großbritannien an einem gemeinsamen Flugzeugträger arbeiten. Fortschritte machen wir, wenn wir unsere Mittel zusammenlegen, das gilt vor allem für den strategischen Transport und für die Offiziersausbildung. Wir müssen jetzt daran denken, unseren gemeinsamen Kommando- und Einsatzführungsstrukturen mit dem Operationszentrum der EU einen permanenten Rahmen zu geben.

Eine solche Entwicklung ist notwendig, weil die Europäische Union in zunehmendem Maße an der Friedenssicherung mitwirken wird. Ein stärkeres und effizienteres Europa der Verteidigung, das mit gesicherten Mitteln ausgestattet ist, verstärkt die Fähigkeit der NATO insgesamt und trägt zum Gleichgewicht in der Welt bei. Zwischen Europa und der NATO entsteht eine Komplementarität, die allen Nutzen bringt. Da, wo Europa aus geografischen oder historischen Gründen bzw. aufgrund der Art des Einsatzes besser eingreifen kann, wird die Europäische Union entsprechend Verantwortung übernehmen.

Folglich fällt auch der Europäischen Union eine führende Rolle auf dem westlichen Balkan zu, zumal diesen Ländern der Beitritt in Aussicht gestellt wurde. Die EU hat die NATO in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien und in Bosnien-Herzegowina abgelöst. Sie bereitet sich in einer ersten Etappe auf die Entsendung von Polizisten in den Kosovo vor und sichert somit einen wesentlichen Bestandteil der internationalen Präsenz in einer kritischen Phase, in der es um die Zukunft der Provinz geht. Und in Libanon bilden die Europäer, auf Bitte der gesamten Völkergemeinschaft, die Grundstruktur der neuen UNIFIL, deren Glaubwürdigkeit eine wesentliche Voraussetzung für die Vermeidung eines neuen Kreislaufs der Gewalt ist.

Eine solche Entwicklung erfordert im Übrigen, wie beim Gipfeltreffen in Brüssel im Februar 2005 vereinbart, einen intensiveren politischen und strategischen Dialog zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. Auch eine Verstärkung der Beziehungen zwischen der NATO und der Europäischen Union ist notwendig. Frankreich ist natürlich bereit dazu, möchte aber, dass die Stimme der Europäischen Union in der Allianz Gehör findet. Dazu muss ihren Mitgliedern die Möglichkeit zu einem gesonderten Abstimmungsprozess innerhalb der NATO gegeben werden.

Eine solche Entwicklung wird zu einem immer engeren Bündnis führen, einem zunehmend solidarischen Bündnis, in dem die nordamerikanischen und europäischen Partner, entsprechend den Grundsätzen und Zielen der Charta der Vereinten Nationen, gemeinsam Ziele festlegen und weiterhin Seite an Seite für den Frieden und die Sicherheit in der Welt arbeiten können.







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