Fernsehinterview zum Nationalfeiertag mit Staatspräsident Jacques Chirac - Auszüge (Paris)

Fernsehinterview zum nationalfeiertag mit Staatspraesident Jacques CHIRAC - auszuege -

Paris, 14. Juli 2004

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Wir durchlaufen in der Tat eine besondere und wichtige Phase für unser Land. In den letzten zwei Jahren haben wir Frankreich auf die richtige Spur gebracht und das Ansehen des Staates, der Sicherheit, der Verteidigung, der Verantwortung in der Welt wiederhergestellt, die unverzichtbaren Reformen in Angriff genommen, die nicht länger aufgeschoben werden konnten: Renten, Krankenversicherung, ältere und behinderte Menschen; und wir haben eine Politik in Gang gebracht, die das Wachstum in Schwung bringen soll, wenn es sich abzeichnet, was nun der Fall ist.

Jetzt liegen also drei Jahre vor uns, um zu festigen, was wir in Angriff genommen haben. Was ist also zu tun?
Zunächst müssen wir das Wachstum in Schwung bringen und dafür sorgen, dass es allen nutzt; das heißt, wir müssen einerseits die Werte Arbeit, Verantwortung und Verdienst wieder in unserer Gesellschaft verankern und einen sozialen Zusammenhalt fördern, der seit vielen Jahren Probleme macht.

Zweitens müssen wir Frankreich und den Franzosen in dieser Zeit die notwendigen Anreize geben, um die Zukunft vorzubereiten; das heißt, neben dem Wachstum und dem sozialen Zusammenhalt muss das Vorrang haben, was unsere Zukunft bedingt, nämlich Bildung und Ausbildung, Innovation und Forschung.

Und drittens müssen wir die Wette auf Europa annehmen und uns klar für ein stärkeres Frankreich in einem stärkeren Europa einsetzen.

Das ist der Fahrplan, den ich der Regierung jetzt vorgebe.

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Vor uns liegt die große Reformbaustelle Bildung, die wir anpassen müssen. Vor uns liegt eine weitere Großbaustelle, damit im Bereich Forschung und, ich sage es noch einmal, Innovation mehr investiert und die Zukunft besser vorbereitet wird. Das sind Reformen.

Und über all dem haben wir ein echtes Problem in Frankreich, wir müssen nämlich den Staat an seine Verantwortung von morgen anpassen. Es gibt keine Gesellschaft ohne einen starken Staat. Zumindest keine Gesellschaft, wie wir sie uns vorstellen, ohne einen starken Staat. Aber ein starker Staat bedeutet nicht ein ohnmächtiger Staat, doch manchmal ist er das.

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Der soziale Zusammenhalt in Frankreich ist geschwächt. Das machen die Zahlen deutlich. In den letzten fünfzehn Jahren hat sich die Anzahl derer, die das Mindesteinkommen RMI erhalten, verdreifacht. Die Jugendarbeitslosigkeit hat besonders in den so genannten Problemstadtvierteln beträchtlich zugenommen. Die Anzahl der Sozialwohnungen ist um die Hälfte gesunken. Die Wartezeiten für eine Sozialwohnung haben sich vervierfacht.

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Aber unsere Sozialausgaben sind immer weiter gestiegen. Das führt heute in Frankreich dazu, dass es immer mehr Franzosen gibt, die sich vergessen fühlen und immer mehr Franzosen, die arbeiten und das Gefühl haben, immer mehr für die zu zahlen, die nicht arbeiten (...).


In den kommenden zehn Jahren wird uns rund eine Million Erwerbstätige verloren gehen. Das bedeutet, wenn wir unsere jungen Leute nicht selbst ausbilden, wenn wir sie sozusagen aufgeben, dann brauchen wir, wenn wir Arbeitsstellen besetzen wollen, Zuwanderer; das wird das Problem von morgen sein.

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Wir müssen der Arbeit, der Verantwortung, dem Verdienst in unserer Gesellschaft wieder zu ihrem Stellenwert verhelfen. Das heißt, man muss die Methode ändern. Es gibt Rechte, die eingehalten oder gegebenenfalls ausgedehnt werden müssen; das sind die Rechte, welche die Solidarität einer Nation fordert. Und es gibt die Pflichten, die manchmal, übrigens schon seit langem, vergessen wurden. Daher die Notwendigkeit, und das ist der eigentliche Sinn des Plans zur Förderung des sozialen Zusammenhalts, einer vertraglichen Grundlage. Man hat Rechte und man hat Pflichten. Man muss einander respektieren. Und vor allem gibt es immer mehr Mitbürgerinnen und Mitbürger, die in gewisser Weise entsozialisiert sind. Wir dürfen uns nicht weiter, wie zu lange geschehen, mit einer Abhol-Politik zufrieden geben: ihr holt euch einen Scheck ab, der euch zu überleben hilft. Wir brauchen eine Politik der begleitenden Maßnahmen, das heißt, man muss den Leuten die Hand reichen. Man muss sie abholen, ihnen sagen, was man für sie tun muss, was sie für sich selbst tun müssen und eine wirkliche begleitende Politik führen, in der die Wiedereingliederung in die Ausbildung und in die Arbeit enthalten ist.

Und schließlich ist eine beträchtliche Anstrengung in Sachen Wohnungsbau erforderlich. Der soziale Wohnungsbau ist ein wenig zusammengebrochen. 2000 hatten wir den Tiefpunkt erreicht, obgleich Geld da war. 2000 wurden 40.000 Sozialwohnungen gebaut. 2003 waren es 60.000. 2004 sollen es 80.000 sein. 2009 dann 120.000. Denn eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft erfolgt weder für Menschen mit Arbeit, noch für Menschen, die arbeiten wollen, wenn nicht die Möglichkeit einer entsprechenden und menschenwürdigen Wohnung gegeben ist.

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Wir lehnen jegliche Form von Parallelgesellschaften ab. Das heißt, wir brauchen, angesichts der Zuwanderungsphasen und der Anwesenheit vieler Zuwanderer der zweiten Generation, eine aktive Integrationspolitik. Man muss zugeben, dass diese Politik, die vor allem dank der Schule ganz gut funktioniert hat, seit einigen Jahren entweder überfordert ist oder zu wenig berücksichtigt wurde, und wir sind jetzt in einer Situation, in der die Integration nicht gut läuft. Wir müssen also unbedingt die Integration stärken; das gehört auch zum Plan zur Förderung des sozialen Zusammenhalts. Denn man kann nicht gegen Parallelgesellschaften sein und gleichzeitig nichts dafür tun, dass die Integration funktioniert.

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Ich war nicht für die 35-Stunden-Woche, insofern als sie autoritär und verallgemeinernd, autoritär und vereinheitlichend ist. Also hatte sie unweigerlich negative Folgen, wie wir gesehen haben, für das Wachstum und für die Kaufkraft.

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Ich für mein Teil fordere die Regierung auf, mit den Sozialpartnern die erforderlichen Verhandlungen über die 35-Stunden-Woche zu führen und dabei drei Grundsätze zu achten. Erstens, dass die rechtliche Arbeitszeit 35 Stunden beträgt und weiterhin betragen wird. Zweitens, dass mehr Freiheiten für die Arbeitnehmer notwendig sind, vor allem für diejenigen, die mehr arbeiten oder mehr verdienen wollen; und mehr Freiheiten für die Unternehmen, damit sie sich dem Markt und den Entwicklungen besser anpassen können. Und drittens müssen die Arbeitnehmer selbstverständlich auf ihrem Lohnzettel auf ihre Kosten kommen.

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Der Europäische Gerichtshof spricht Urteile über Verfahren, das heißt und daraus ziehe ich meine Schlüsse, er hat Recht, dass die Beziehung, das Verhältnis, der Austausch zwischen dem Europäischen Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs sitzen, und der Kommission, die das allgemeine europäische Interesse verkörpert, künftig stärker sein muss, und das war einer der Gründe, der rechtfertigt, dass ab Anfang des nächsten Jahres unter luxemburgischer EU-Präsidentschaft der Stabilitätspakt mit seinen Anwendungsmodalitäten und Verfahren einer Prüfung unterzogen wird.

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Gewiss ist Frankreich für Disziplin, es ist nicht vorstellbar, dass all die Länder, die eine einheitliche Währung haben, nicht am gleichen Strang ziehen, wenn es um ihre öffentlichen Finanzen oder um ihre Verschuldung geht. Also braucht man eine Regel. Die Regel, die wir verabschiedet hatten, ist meines Erachtens eine Regel, die noch einmal geprüft werden sollte. Ich bin nicht sicher, ob sie in Bezug auf den Stabilitätspakt nicht ein bisschen hart ist. Auf der Ebene der Wirtschafts- und Finanzminister laufen schon die ersten Debatten; und das wird auch Gegenstand der Debatte über die Umsetzung des Stabilitätspakts sein.

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Natürlich brauchen wir einen festen Stabilitätspakt. Es ist ebenso überraschend festzustellen, dass unser Stabilitätspakt - ich erinnere daran, dass er ursprünglich Stabilitäts- und Wachstumspakt hieß und nur von den Finanzwirtschaftlern Europas als Stabilitätspakt gesehen wurde, wobei das Wachstum außer Acht gelassen wurde - dass es überrascht, wie unterschiedlich unser Finanzmanagement im Vergleich zu den Vereinigten Staaten ist, unter dem herausragenden Impuls von Alan Greenspan, der nicht zögert, die Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen, wenn es sein muss, auch mit einem Haushaltsdefizit.

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Die Europäische Zentralbank ist dafür nicht gemacht, sie hat eine andere Aufgabe, die sie erfüllt; all das muss geprüft werden. Die Europäische Bank kann nicht als einziges und alleiniges Ziel die Preisstabilität verfolgen. Preisstabilität ist eine Forderung, aber es gibt auch noch das Wachstum und den Umgang mit den öffentlichen Finanzen in Abhängigkeit vom Wachstum.

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Es ist eindeutig, dass die Abzüge der Franzosen sehr hoch sind, übrigens deutlich höher als im europäischen Durchschnitt. (...) Wir betreiben jetzt eine Politik, damit die Abzüge im allgemeinen niedriger werden, die Sozialabgaben und die Steuern, vor allem die Einkommensteuer. Eine solche Politik ist notwendig und sie müsste mittel- und langfristig fortgesetzt werden, bis wir den europäischen Durchschnitt erreichen. (...) Denn durch niedrigere Abgaben werden das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung gefördert, also hat das Vorrang.

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Wir haben nach einer langen Vorbereitung am 18. Januar in Brüssel eine neue Verfassung verabschiedet (...).
Sie ist in erster Linie das Ergebnis einer fünfzigjährigen Anstrengung, die von allen französischen Staats- und Regierungschefs fortgeführt wurde. Von General de Gaulle und Konrad Adenauer bis zu mir, ohne Ausnahme. Wir stehen jetzt an einem Punkt mit einer zweifachen Reform, die beachtlich ist: der Erweiterung Europas, so dass die Demokratie und der Friede in Europa verankert werden, was für die künftigen Generationen lebenswichtig ist; und einer neuen Spielregel zur Harmonisierung, Modernisierung und Anpassung unserer Institutionen an die Erweiterung, und das ist die Verfassung.

Ich erinnere noch einmal daran, dass Frankreich als erstes Land diese Reform ins Gespräch gebracht und von Verfassung oder Verfassungsvertrag gesprochen hat. Ich habe im Juni 2000 im Bundestag in Berlin davon gesprochen und diese Idee ins Spiel gebracht, die mir unverzichtbar schien.

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Wir haben also jetzt ein erweitertes Europa, das allein Frieden und Demokratie für die Zukunft garantieren kann. Denn man schlägt sich nicht, wenn man zusammen um den Tisch herum sitzt, und man kann auch die Demokratie nicht wieder in Frage stellen, wie in einigen Ländern geschehen. Dieses Europa ermöglicht uns eine kohärente Wirtschaft und gestattet uns, leichter Impulse zu geben.

Der Text ist gut. Niemand kann das ernsthaft bestreiten. Er entspricht den Interessen Frankreichs, das durch die Verfassung in Europa gestärkt wird. Er entspricht den Interessen Europas. Er entspricht den Interessen aller Europäer. Am 18. Juni haben wir ihn also beschlossen. Am 29. Oktober, glaube ich, werden wir in Rom diesen neuen Verfassungsvertrag gemeinsam unterzeichnen. Und im kommenden Jahr, nach dem Prüfungsverfahren und der Verfassungskontrolle, müssen ihn alle Länder ratifizieren.

Frankreich hat die Wahl, auf parlamentarischem Wege oder über ein Referendum zu ratifizieren.

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Die Franzosen sind direkt betroffen und sie werden direkt befragt. Es wird also ein Referendum geben, aller Wahrscheinlichkeit nach im kommenden Jahr, nach allen Verfahren und gegebenenfalls nach der Prüfung der Verfassung, um unsere Verfassung an die wichtigsten Verpflichtungen des Verfassungsvertrags anzupassen.

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Ich hoffe, dass die Franzosen verstehen, dass man ihnen eine wesentliche Frage zu ihrer nahen Zukunft und vor allem zur Zukunft ihrer Kinder stellt. (...) Was wir heute tun, ist historisch: mit der Erweiterung und der Verfassung, nach fünfzig Jahren Anstrengung, kann Europa nicht mehr geteilt werden. Ist das nicht ein schönes Vermächtnis an unsere Kinder? Ist es da nicht den Versuch wert, über das Thema abzustimmen, das uns vorgelegt wird, und nicht über irgendein unmittelbares Problem?

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Ich glaube nicht, dass ein verantwortlicher Politiker, der diese Bezeichnung verdient, ernsthaft den positiven, den guten Charakter dieses Verfassungsvertrags in Frage stellen kann, es sei denn, er will Frankreich fünfzig Jahre zurückwerfen. Ich glaube nicht, das man das kann.

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Ich habe Vertrauen in die Franzosen, vor allem in ihre Fähigkeit, eine echte Debatte über ihre Zukunft mitzugestalten, wenn die Politiker die Debatte nicht vergiften.

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