Artikel von der Präsident für die Zeitung Rheinischer Merkur.

Artikel von Jacques Chirac, Präsident der Französischen Republik, für die Zeitung Rheinischer Merkur

15 januar 2003

Am 22. und 23. Januar begehen Deutschland und Frankreich zusammen den 40. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags, mit dem die beiden Länder eine jahrhundertealte Feindschaft beendeten, ihre Aussöhnung besiegelten und gemeinsam eine enge und ehrgeizige Zusammenarbeit im Dienste der europäischen Einigung in die Wege leiteten.

Die Initiative, die General de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer ergriffen, war ein Akt des Mutes und der Vision. Rückblickend erlangt sie ihre ganze historische Dimension. Diese beiden herausragenden Staatsmänner ermöglichten es unseren beiden Ländern, den Teufelskreis der Konflikte, des Hasses und der Rachgier zu durchbrechen, indem sie beide Länder aufforderten, sich ihrer Schicksalsgemeinschaft klar bewusst zu werden. In dem von ihnen vorgezeichneten Weg lernten Deutschland und Frankreich allmählich, sich zu verstehen, zusammenzuarbeiten und Bande einer wirklichen Solidarität zu knüpfen.

Diese Zusammenarbeit hat eine einzigartige und beispiellose Qualität erreicht. Hunderttausende von Jugendlichen, von Schülern und Studenten beider Länder konnten dank dem Deutsch-Französischen Jugendwerk die Vorzüge ihrer Nachbarn kennen und schätzen lernen. Die deutsch-französische Universität ermöglichte die Schaffung integrierter binationaler Studiengänge. Zwischen den Gebietskörperschaften wurden vermehrt Partnerschaften gegründet. Mit der so symbolträchtigen Einrichtung einer deutsch-französischen Brigade, die ihrerseits später die Schaffung des Euro-Korps ermöglichte, entstand zwischen unseren Soldaten eine aktive und tiefe Brüderlichkeit. Mit dem deutsch-französischen Fernsehkanal ARTE wurde ein außergewöhnlicher Kommunikationskanal zwischen unseren beiden Ländern geschaffen, die gemeinsam ihren Beitrag zu einem europäischen Projekt leisten müssen, dessen kultureller Reichtum ein wesentliches Bindeglied darstellt.

Manche wären versucht zu denken, diese Aufgabe sei nunmehr erledigt. Nach Meinung anderer wären Deutschland und Frankreich künftig ganz normale Partner innerhalb einer erweiterten Union.

Ich für meinen Teil bin ganz im Gegenteil davon überzeugt, dass die neuen Realitäten des Europas von heute und die Herausforderungen, denen sich Europa stellen muss, nicht nur die Aufrechterhaltung, sondern auch die Stärkung der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich rechtfertigen, und dies im Dienste einer gemeinsamen Verantwortung für Europa.

Denn die Erweiterung ist eine Chance, da sie der Union neue Horizonte, neue Betätigungsfelder und Perspektiven für einen neuen Austausch zwischen den Menschen eröffnet. Sie stellt aber auch eine Herausforderung und Verantwortung dar, da sie die Gestalt der Union grundlegend verändern wird.

Eine im Jahre 2004 auf 25 und dann im Jahre 2007 auf 27 Mitgliedstaaten erweiterte Union wird vielfältiger, zwangsläufig aber auch schwerfälliger und weniger homogen sein. Sie wird mehr Mühe haben, ihren Zusammenhalt zu bewahren und nach außen gemeinsame Interessen zu verteidigen. Deutschland und Frankreich, den beiden Gründernationen des europäischen Projekts, die aufgrund ihrer geographischen Lage und ihres besonderen Gewichts das Zentrum des neuen Europas bilden, obliegt es, gemeinsam die Kompromisse zu definieren, mit denen Europa seinen Zusammenhalt und seine Handlungsfähigkeit stärken und seine Zukunft bestimmen kann.

Die gebündelte Kraft Deutschlands und Frankreichs wird möglicherweise nicht immer ausreichen, um die Schwierigkeiten, die sich Europa in den Weg stellen, zu überwinden; die Erfahrung hat aber gezeigt, dass kein europäisches Projekt Chancen auf Erfolg hat, wenn es von Deutschland und Frankreich nicht mit Entschlossenheit mitgetragen wird.

Indem unsere beiden Länder dieser gemeinsamen Verantwortung nachkamen, ermöglichten sie im Laufe der Jahre die bedeutenden Fortschritte im europäischen Aufbauwerk: freier Personenverkehr im Schengen-Raum, Binnenmarkt, Einführung des Euro. In der politischen Erklärung, die in Paris anlässlich des 40. Jahrestages der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags angenommen wird, werden wir unseren gemeinsamen Willen bekräftigen, noch weiter voranzukommen und den Erwartungen, die die Bürger unserer beiden Länder und unsere Partner in unsere gemeinsame Aktion setzen, gerecht zu werden.

Deutschland und Frankreich müssen gemeinsam dafür sorgen, dass die Reform der europäischen Institutionen gelingt und der Konvent, der nächsten Sommer einen Verfassungsentwurf für Europa vorschlagen wird, zu einem Erfolg wird. Dies ist ein neues ehrgeiziges Vorhaben, das dazu führen muss, dass das europäische Projekt auf völlig neue Grundlagen gestellt wird.

Auf diese Weise wollen wir die Voraussetzungen für eine stärkere, demokratischere, verständlichere, solidarischere und effizientere Union schaffen, die auf der internationalen Bühne eine größere Glaubwürdigkeit genießt. Gestärkt werden müssen die Handlungsfähigkeit, die Legitimation und die Stabilität der Institutionen der Union.

Deutschland und Frankreich müssen im Verbund an der Schaffung einer europäischen Verteidigungskapazität arbeiten; zu diesem Zweck haben wir die Gründung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion vorgeschlagen. Wir sind auch entschlossen, Europa als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu stärken und unsere Zusammenarbeit zur Abwehr neuer Bedrohungen wie des Terrorismus zu intensivieren.

Allgemein müssen unsere beiden Länder gemeinsam zum Abbau der Hindernisse beitragen, die in Wirklichkeit die Grenzen zwischen den Menschen in einem Europa aufrechterhalten, das vor allem ein Europa der Bürger sein muss.

Nur wenn Deutschland und Frankreich ihre Zusammenarbeit weiter verstärken, können sie in dieser neue Etappe des europäischen Einigungsprozesses ihrer Rolle gemeinsam gerecht werden. Wir müssen darauf hinwirken, dass unsere beiden Regierungen künftig gemeinsame Kabinettssitzungen abhalten und die Minister, denen besondere Verantwortlichkeiten obliegen, systematisch zusammenarbeiten können. Um unsere Bürger stärker einbeziehen zu können, bedarf es einer engeren Konsultation zwischen uns bei der Vorbereitung unserer Gesetze und somit einer Stärkung des Dialogs zwischen unseren beiden Parlamenten. Mit der Zeit müssen wir auch die Schwierigkeiten derjenigen Bürger verringern und beseitigen, deren berufliches, familiäres und persönliches Leben sich auf beide Länder verteilt.

Was Deutschland und Frankreich in der Geschichte erlebt und erlitten haben, ist ohne Beispiel. Beide Länder, die geistigen Väter des europäischen Gedankens, sind heute aufgerufen, die Weichenstellungen vorzunehmen, mit denen Europa sich neue Ziele setzen, seine Grenzen zurückdrängen und die Herzen der Menschen erobern kann. Am 22. und 23. Januar werden die beiden Regierungen und die Vertreter der Parlamente einen neuen Anlauf nehmen. Ich bin überzeugt, dass Deutsche und Franzosen auch künftig gemeinsam viele schöne Seiten in der Geschichte Europas schreiben werden.





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